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Das Transistorradio und die Gestalttherapie


Die Gestalttherapie war für die Psychotherapieszene der 1950er und 60er Jahre, was das Transistorradio damals für den Elektronik-Markt war: Beides war aufsehenerregend und beides war für konservative Denker eine Provokation. Das Westentaschen-Transistorradio wie auch die Gestalttherapie erschienen den Zeitgenossen wie aus dem Nichts erschaffene Innovationen. Dabei hatte weder die Firma Sony den Transistor erfunden, den hatten die Amerikaner schon 1947 zur Serienreife gebracht, noch hatte Fritz Perls den Gestaltgedanken als erster gehabt, das war den deutschen Gestaltpsychologen bereits gelungen, als Fritz Perls noch ein Schüler war. In beiden Fällen bestand die Genialität darin, bereits vorhandene Elemente in einem großen Wurf zu etwas Neuem, Einzigartigen zusammenzufügen.

Die Sony-Ingenieure taten weiter nichts, als einen Gedanken aufzugreifen, der bereits existierte: die Idee eines handlichen, kleinen, tragbaren Radios. Sie ersetzten die herkömmlichen Röhren in den Empfängern durch Transistoren, fügten gedruckte Schaltungen auf Platinen, Rauschunterdrückung und die neuartigen Trockenbatterien hinzu. Sie bemühten sich alles kleiner, leichter, leistungsfähiger zu machen und sie verpflichteten Topdesigner, um dem Miniradio ein ansprechendes Aussehen zu verleihen. Das neue Produkt erhielt den Typennamen TR-610. Es wurde weltweit der Publikumsliebling und verkaufte sich von 1958 bis 1960 mehr als 500.000-mal.



Die Gestalttherapie erlebte ihren großen Durchbruch ein paar Jahre später, zwischen 1965 und 1970. Damals veröffentlichten Newsweek und Time-Magazine Artikel über das „Human Potential Movement“ und im Zusammenhang damit wurde auch über Gestalttherapie berichtet. Interviews mit Fritz Perls wurden abgedruckt und einige Millionen Amerikaner lernten Fritz Perls via Bildreport kennen. Auf den Fotos war er mit langem Bart und der unvermeidlichen Zigarette zu sehen. Die Konservativen regten sich darüber auf und die Anhänger der neuen Bewegung strömten in Scharen zu den Seminaren und Workshops von Fritz Perls, die in „Esalen“ stattfanden, dem bekanntesten Meditations- und Therapiezentrum Kaliforniens. Das Auftreten der Gestalttherapie löste heftigste Kontroversen aus, die zum Teil bis heute fortleben. Wegdenken lässt sich jedenfalls die Gestalttherapie aus der Therapieszene seitdem nicht mehr.
Was sind nun die Bauelemente, die Fritz Perls zur Gestalttherapie komprimierte? Ich möchte einige davon aufführen, um alle Einflüsse zusammenzutragen, braucht es mehr Platz, als wir hier haben. Offensichtlich ist, dass die Bauelemente der Gestalttherapie nicht so kurz und bündig vorgestellt werden können wie die des kleinen Erfolgsradios.

1.       Das Hier-und-Jetzt Prinzip.
Durch Kontakte zu Zen-Buddhismus, Tao und Meditation fand Fritz Perls zu dieser „Here-Now“ Position zur „Hier-und-Jetzt“ Haltung. Augenscheinlich, dass er sie nicht erfunden hat, aber kein anderer Therapeut vor ihm hat sie zum ersten Prinzip seiner Therapie gemacht. „Ich behaupte, dass alle Therapie, die gemacht werden muss, nur im Jetzt gemacht werden kann.“ (F. Perls: Gestalt, Wachstum, Integration, S. 93)
Seine Fragen lauteten stets: „Was fühlst du jetzt? Was willst du jetzt? Was machst du jetzt?“ Klienten kommen in die Praxis, weil sie möchten, dass sich in ihrem Leben etwas ändert. Sie möchten mit dem Partner, mit den Eltern, mit den Kindern besser zurechtkommen. Sie wünschen sich im Beruf mehr Gelassenheit. Sie hätten gerne mehr Energie, mehr Zuwendung, ein stabileres Selbstbewusstsein und eine unwiderstehliche Ausstrahlung. Fritz Perls begleitete sie dabei zu erfahren, dass Veränderung, wenn sie passiert, immer im Jetzt stattfindet, nicht gestern, nicht morgen. Jetzt!
Wenn du fühlst wie das Blut in deinen Adern fließt, wie die Energie in deinem Körper auf- und absteigt und wenn du deine Atmung bewusst wahrnimmst, dann bist du im Hier und Jetzt. Wenn du im Augenblick bist, kannst du nicht gleichzeitig in Gedanken verloren sein. Unglücklich, energielos und voller Selbstzweifel sind wir, weil wir in anderen Zeiten, anderen Welten auf Reisen sind und die Wirklichkeit, die uns umgibt, niemals mit unseren Traumwelten konkurrieren kann. Bis wir die Gegenwart als das einzige anerkennen was zählt, müssen bei den meisten von uns eine ganze Reihe von Illusionen zerplatzen. Der Gestalttherapeut hat etwas mit einem Abbruchunternehmen gemeinsam: Er assistiert bei der Zerstörung von Luftschlössern, damit der Zugang zu mehr Wirklichkeit frei wird.
Fritz Perls achtete sehr auf die Sprachform: Sprich in der Gegenwart, sagte er hunderte Male. Erzähl mir den Traum in der Gegenwartsform, so, als ob du ihn gerade jetzt erlebst. Wenn er einen Dialog begleitete, der nötig wurde um eine Beziehung zu klären, zum Beispiel mit dem Vater, drängte er immer darauf: Sag es ihm direkt. Kein wollte, sollte, könnte, sondern immer im Jetzt: Ich will, ich muss, ich möchte von dir. Wenn ich im therapeutischen Dialog zu meinem Vater sage, da hab` ich mich sehr über dich geärgert, dann ist das so, als spräche ich von jemand anderem. Wenn ich ihm aber direkt sagen muss: Ich bin wütend auf dich, dann wird sich zeigen, ob das ein Gedanke ist und damit beliebig oder eine echte Empfindung, die jetzt, in diesem Augenblick, den Ausdruck sucht, den ich immer vermieden habe. Und nur, wenn ich im Augenblick fühle, wie die Wut sich zeigt und nach wenigen Minuten verraucht, wenn ich den Vater wirklich wahrnehme, ihn wirklich fühle, jetzt, nur dann wird sich nachhaltig etwas ändern.

2.       Der leere Stuhl
Es gab bei Fritz Perls den heißen Stuhl und den leeren Stuhl. „Der Begriff ´heißer Stuhl´ ist kein durch die Gestalttherapie geschaffener Begriff, sondern er stammt aus den Anfängen der Encounter-Bewegung. … Auf dem ´heißen Stuhl´ saß jeweils ein Teilnehmer, der Rückmeldungen über sich erhielt.“ (Ronall/Feder: Gestaltgruppen, S. 10) Bei Perls nahm dort der Klient Platz. Stand man aus der Gruppe auf um nach vorne zu kommen und sich auf den Stuhl vor Fritz Perls zu setzen, konnte es einem schon mal heiß werden.
„Der eigentliche `Gestaltstuhl` war nicht der heiße, sondern der leere Stuhl.“ (Ronall/Feder, S. 10) Der leere Stuhl stand an der Seite, dort nahmen für einen therapeutischen Dialog innere Größen Platz: die Freundin, die Mutter, meine Eifersucht, ständig wechselnde innere Anteile. Genau hier war natürlich das Hier-und-Jetzt gefragt. Sag es ihr jetzt! Hörst du, was sie sagt? Was fühlst du, wenn die Mutter vor dir sitzt? Jetzt? 
Für viele ist Gestalttherapie gleichbedeutend mit „die Arbeit mit dem leeren Stuhl“. Das stimmt natürlich nicht, aber sie ist eine geniale Möglichkeit zur Aktualisierung einer Thematik. Frank Staemmler erinnert in seinem Buch „Der leere Stuhl“ daran, dass Jacob Moreno bei der Arbeit mit der von ihm entwickelten Technik des Psychodramas bereits in den fünfziger Jahren mit Stühlen arbeitete. Er bezeichnete den leeren Stuhl als ein „therapeutisches Vehikel“. „In Augenblicken von großer Erregung, übernimmt der Protagonist die Rolle des anderen, setzt sich auf dessen Stuhl und antwortet an seiner Statt.“ (Staemmler, S. 31) Perls ist also nicht der Urheber der therapeutischen Arbeit mit dem leeren Stuhl, aber er fügt sie seiner Hier-und-Jetzt Therapie hinzu und bereichert sie dadurch deutlich.

3.       Das Psychodrama von Jacob Moreno
Fritz Perls kannte Jacob Moreno persönlich und er bewunderte und verfolgte dessen Arbeit mit dem Psychodrama genau. So gelangte nicht nur das Monodrama in die Gestalttherapie, also der Dialog mit dem leeren Stuhl, sondern auch das umfassendere, schauspielerische Ausagieren. Wenn ein Gruppenteilnehmer bei der Einzelarbeit sagte: “Ich habe keine Worte um meine Gefühle auszudrücken“, dann schlug Fritz vor: „Spiel mir das“, oder „Tanz es mir“. Damit kam zur Praxis der Gestalttherapie der volle Körpereinsatz hinzu, was bis dato in der Psychotherapie kaum denkbar war. Für die Psychoanalyse damals unvorstellbar, heute immer noch die Ausnahme, wie bei Tilman Moser, auch in der Gesprächstherapie nach Carl Rogers nie gesehen. Therapeuten und Klienten nahmen sich und ihre Probleme sehr ernst. Eine Lebenssituation vorzuspielen, die unter der Darstellung zu einer Komödie gerät und die am Ende Therapeut und Klient dazu brachte, zu lachen, das war, bevor Fritz Perls das Psychodrama in die Gestalttherapie integrierte, unerhört.
Fritz Perls ließ sich bei den Sitzungen, die er vor der Gruppe gab, räumlich zeigen wie die Figuren aus einem Traum zu einander standen. Er wollte sehen, wie die Personen sich im Raum bewegten, was sie taten, all‘ das, was der Träumer oder die Träumerin im Traum erlebt hatte. Er sagte: „Der dritte Schritt ist nun, eine Bühne einzurichten und zu versuchen, diesen Traum zu leben, ihn wieder zum Leben zu erwecken, wie er war, ihn auszuagieren.“ (F. Perls: Gestalt- Wachstum- Integration, S. 209) Dieses Vorgehen brachte Bewegung in die therapeutische Arbeit und alles zielte auf Ausdruck. Von Fritz Perls stammt auch die Formulierung: „Repression is suicide, expression is life“.

4.       Das expressionistische Theater von Max Reinhardt
Es war nicht nur die Arbeit von Jacob Moreno, die Fritz Perls dazu anregte, das Ausagieren in die Therapie hineinzunehmen, es war auch die Begeisterung für das Theater und die Schauspielerei. Die Bühne lockte ihn seit seiner Kindheit. Er besuchte die Aufführungen des Max-Reinhard-Theaters in Berlin. Er nahm Statistenrollen und in seiner Studentenzeit auch kleine Bühnenrollen bei Reinhard an. Das Expressionistische bei Reinhard, das zum Ausdruck drängende, faszinierte ihn besonders.
Im sozialen Kontext, das war die Überzeugung von Fritz Perls, spielen wir alle Rollen, so als stünden wir permanent auf der Bühne. „Die meisten Rollen sind Mittel zur Manipulation – der Tyrann, der Hilflose, der Verführer, der brave Junge, der Schmeichler. Der Überlebenskünstler, die Jewish Mama, der Hypnotiseur, der Langweiler usw. Sie wollen dich alle auf die eine oder andere Art beeinflussen.“ (F. Perls: Gestalt-Wahrnehmung, S. 145) Damit wir uns dieser Rollen bewusst werden, lässt Fritz Perls sie uns spielen, übertreiben, mit unseren Schwächen prahlen. Alles ein großes Theater. Erst wenn uns klar wird, was wir da permanent inszenieren, wird der Weg frei für das, was hinter all den Masken und Verkleidungen liegt: Der Kern, das Wesen, die Essenz.
Das ganze Leben war für Perls eine einzige Herausforderung, das eigene Wesen zum Ausdruck zu bringen. Wenn die Selbstdarstellung und die Selbstentfaltung misslangen, war das Leben verpfuscht. Umzusetzen was wir in die Welt zu bringen haben, lebendig werden zu lassen, was wir in uns tragen, schien Fritz Perls die größte Aufgabe im Leben zu sein. So gelangten also Theater, Expressionismus und etwas Tieferliegendes, vielleicht etwas Spirituelles, in die Gestalttherapie.  
In der Arbeit mit dem leeren Stuhl treffen sich somit die Einflüsse von Jacob Moreno, vom expressionistischen Theater und von der Encounter-Bewegung. Alles zusammen ist nur therapeutisch wirksam, wenn es im Präsenz gespielt, gesprochen und damit lebendig wird. Ohne Hier-und-Jetzt Prinzip funktioniert das nicht.                

5.       Die Gestaltpsychologie
Eine weitere unverzichtbare Zutat zum sensationellen Mehrkomponentenwirkstoff „Gestalttherapie“ ist die Gestaltpsychologie. Sie ist eine Wissenschaftsrichtung, die in den ersten beiden Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts aufkam. Die noch junge experimentelle Psychologie begann sich mit dem Phänomen „Wahrnehmung“ zu befassen. Männer wie Max Wertheimer, Wolfgang Köhler, Kurt Koffka nahmen sich die Erforschung der Wahrnehmungspsychologie vor. Sie waren sich sicher, dass sich Grundlegendes über die menschliche Psyche sagen ließ, wenn man erst die Vorgänge bei der Wahrnehmung kannte und verstand.
Fritz Perls kam mit der nächsten Generation von Gestaltpsychologen in Kontakt, als er 1926 bei den Professoren Ademar Gelb und Kurt Goldstein in Frankfurt assistierte. Goldstein war Psychiater und Neurologe und behandelte hirnverletzte Soldaten aus dem Ersten Weltkrieg. Sein Anliegen war eine ganzheitliche Neurologie. Gelb war Gestaltpsychologe und in der Zusammenarbeit dieser beiden Wissenschaftler konnten Erkenntnisse aus dem unglücklichen Umstand der Hirnverletzung gezogen werden. Goldstein brachte vor allem den Gedanken des Organismischen in die Gestalttheorie ein. Hier lernte Perls den erweiterten Gestaltbegriff kennen, hier wurde ihm der Blick für die Selbststeuerung und Selbstentfaltung allen Lebens eröffnet.
In den zwanziger Jahren häuften sich die Forschungsergebnisse und es wurden an die hundert Wahrnehmungsgesetze gefunden. Zwei davon sind zum Verständnis der Gestalttherapie unerlässlich. Das erste heißt: Gesetz von Figur und Grund, das zweite: Gesetz der Ganzheit. Figur und Grund besagt in Kürze: drei Leute erleben dieselbe Szene, geben jedoch drei völlig verschiedene Berichte. Sie sind zur selben Zeit auf derselben Party. Der Durstige sieht nur die Bar, der Hungrige das Buffet und der Einsame sieht nur die Frau, mit der er gleich Kontakt aufnehmen wird, in der Hoffnung den Abend mit ihr zu verbringen.
Vor demselben Hintergrund (Grund) hebt sich für die drei Besucher der Party je nach Bedürfnislage Sekt, Lachsbrötchen oder die schöne Frau ab (Figur). Die Deutung des Geschauten liegt also im Auge des Betrachters, nicht in den Objekten oder Szenen, die betrachtet werden. Die Fähigkeit, die eigene Bedürfnislage zu kennen und die Umwelt dementsprechend wahrzunehmen, also Wichtiges vom Unwichtigen zu unterscheiden, ist lebensnotwendig und unerlässlich, um sich in der Welt zurechtzufinden. Psychotherapie hat oft die Aufgabe, Klienten bei der Wiedergewinnung der Unterscheidungsfähigkeit zu unterstützen. Die Frage lautet dann: Was ist jetzt wichtig? Fritz Perls fragte seine Klienten beharrlich immer wieder: Was willst du? Und: Was willst du jetzt?
Das Gesetz der Ganzheit zeigt sich noch umfassender, noch grundlegender. Es ist sowohl ein Gesetz der Wahrnehmung als auch ein Gesetz des Lebens. Es heißt: Die Gestalt muss geschlossen werden. Die Wahrnehmungspsychologie konnte zeigen, dass wir beim Anblick unvollständiger Darstellungen in Bruchteilen von Sekunden das Geschaute ergänzen und zwar zu einem für unser Verständnis sinnvollen Ganzen. Offene Geschichten lassen uns unruhig zurück. Alles drängt danach, die Szene, das Bild, die Melodie abzuschließen.
Auf der Ebene des Lebens ganz allgemein findet sich das Gesetz der Ganzheit in folgender Form: Der lebende Organismus will ganz werden. Das meint, dass in jedem Samen eine komplette Erlebniswelt, eine gigantische Erfahrungsmöglichkeit schlummert und dass Wachstum bei Tier und Pflanze immer dahin zielt, die angefangene Entfaltung zu vollenden. Es geht immer um Wachstum und es geht immer in Richtung Ganzheit. Wir fühlen uns dann gut, wenn wir im Einklang mit unseren Möglichkeiten leben.
In der Gestalttherapie geht es um Unterstützung des Wachstumsprozesses. Eine wichtige Aufgabe des Gestalttherapeuten ist es, den Klienten beim Aufspüren und Auflösen von Wachstumsblockaden zu begleiten. Die effektivsten Wachstumsbremsen sind abgebrochene, nicht zu Ende gelebte Beziehungen. So kommt es, dass häufig auf dem leeren Stuhl Personen sitzen, mit denen wir gebrochen, aber nicht abgeschlossen haben: Vater, Mutter, die ehemals beste Freundin, der Geliebte, der ohne Erklärung verschwand. In den therapeutischen Dialogen kann Ungesagtes endlich ausgedrückt, Ungefühltes endlich gefühlt werden. Das löst eine Verstopfung, setzt gebundene Energie frei und dann ist es, als sei eine Schranke beseitigt worden. Der Organismus kann wieder durchatmen und der Prozess der Entfaltung kann weitergehen.

6.       Der Engpass
Der Engpass stellt nun kein Element dar, das Fritz Perls als ausgereifte Methode aufgreifen und einfach in die Gestalttherapie einbauen konnte. Der Engpass entsprach eher dem, was beim Sony-Miniradio das Design war. Er ist durchaus eine Kreation von Fritz Perls und daher auch wie die Formgebung beim Miniradio, der letzte Schliff, die Abrundung und Vollendung eines in allen wesentlichen Zügen bereits gelungenen Projekts.
Fritz Perls war lange Zeit davon überzeugt, dass es genügt, Bewusstheit auf die psychischen Prozesse zu richten. Die Neurose ließe sich allein über Wahrnehmen und Bewusstmachen der eigenen Regungen und des eigenen Verhaltens auflösen. Perls war mit der Methode nur deshalb unzufrieden, weil sie das eine Mal die neurotische Verstrickung auflöste, das andere Mal nicht. Es gab offenbar eine Teilentwicklung im Zuge des therapeutischen Prozesses, die für den Erfolg entscheidend war und die sich dem bewussten Zugriff noch entzog. Er benötigte einige Zeit um zu verstehen, was genau diese Extrabewegung war, die den Ausschlag für den therapeutischen Erfolg ergab. Er verstand das Phänomen erst, als er es selbst in seiner eigenen Rolfing-Therapie erlebte: Den Engpass.
Wenn uns im Zuge des therapeutischen Prozesses unser eigenes Verhalten bewusst wird, wenn wir die Erwartungen erkennen, die wir an uns und andere stellen, wenn wir uns dem Punkt der Selbstwahrnehmung nähern, an dem klar wird, dass wir uns und andere seit Jahren an der Nase herumgeführt haben, dann gelangt man an eine Stelle, an der die Einsichten immer schmerzhafter werden. An dieser Stelle wird immer deutlicher: Ich muss ein paar liebgewordene Überzeugungen loslassen. Ich muss zulassen, dass sich mein Selbstbild verändert und davor schrecken die Allermeisten ängstlich zurück. Wir sind im tiefsten Innersten davon überzeugt, dass wir das nicht überleben werden. Lieber bleibe ich der freundliche Neurotiker, als dass ich mich meinen eigenen Wahrheiten stelle.
Nachdem Fritz Perls am eigenen Leib erfahren hatte, wie befreiend es sein kann, durch den Engpass zu gehen, schaute er mit ganz anderen Augen auf den therapeutischen Prozess. Jetzt wusste er, worauf er zu achten hatte: Es war unerlässlich zu erkennen, wenn ein Klient sich dem Engpass näherte. An dieser Stelle kam es darauf an, unter allen Umständen dranzubleiben.
Es ist sehr unterschiedlich, was es braucht, um den Klienten nicht wieder rückwärts aus dem Engpass rauszulassen, ihn vielmehr mit allen Mitteln dabei zu unterstützen, dass er sich nach vorne der Engstelle in der Sanduhr nähert und schließlich auch bereit ist, sie zu passieren. Das eine Mal muss der Therapeut mit fester Stimme begleiten, fordernd, streng, unnachgiebig. „Bleib dran, jetzt nicht weglaufen, geh weiter, behutsam … setzt einen Fuß vor den andern …“  Das andere Mal geht es darum, eine sehr nach innen gerichtete Bewegung zu begleiten. „Schließ die Augen. Schau nach innen. Erzähl mir, was du erlebst…“ Zu erkennen, jetzt geht es auf den Engpass zu, ist für den Gestalttherapeuten grundsätzlich das Wichtigste.
Die meisten Klienten erleben die Passage durch den Engpass so: An der engsten Stelle kommt es zu einer Implosion. Als ob die Sonne sich verdunkelt, als ob alles Licht aus dem Universum verschwindet, als ob das Ende nahe ist. Und irgendwann – tatsächlich innerhalb weniger Minuten – kehrt sich die Implosion um in eine Explosion. Die Energie, die all die Jahre jede Lebensregung gedrosselt hatte, wird frei. Die Klienten brechen laut oder leise, mit großen oder kleinen Bewegungen aus dem alten, endlich brüchig gewordenen Gefängnis Neurose aus.
Soviel zum Engpass und der ist, nach Perls` eigenen Aussagen, der Schlussstein am Gebäude Gestalttherapie. Damit war sie vollendet und er sagte zu Barry Stevens 1969, ein Jahr vor seinem Tod: “Am Ende bin ich perfekt: Ich bin angekommen. Besser kann ich es nicht.“ (B. Stevens, Don`t push the river, S. 70)
Das Transistorradio und die Gestalttherapie trafen den Geschmack und die Bedürfnisse der Zeitgenossen. Das kleine Radio bediente das Bedürfnis nach Mobilität, es ging in Richtung Partygesellschaft. Überall wollte man Musik hören. Eine Entwicklung, die genau 50 Jahre später zum Siegeszug des i-Phone führte. In der Therapieszene ebbte die Mode, dass jeder zweite New Yorker seinen persönlichen Psychoanalytiker haben musste, gegen Ende der 60er Jahre ab. Zur Erinnerung: Eine Psychoanalyse dauerte 500 Stunden über vier Jahre verteilt und kostete zwischen 50 000 und 150 000 $. Für Selbstzahler wurde das unerschwinglich.
Alles, also auch die Psychotherapie, musste schneller gehen, effektiver, spektakulärer sein. Genau diesem Trend kam die Gestalttherapie entgegen und das tut sie bis heute.


Rajan Roth 25.3.2020



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