1976
Heute, so kommt es mir vor, erlebe ich die Szene von 1961 bewusster als damals: Sommer, Urlaub, Atlantikküste, Frankreich. Ich bin 17. Vor einem Jahr hab ich Jocelynne hier kennengelernt. Seitdem haben wir Briefe gewechselt. Nun bin ich wieder da. Es hat sich etwas verändert. Ich wills aber gar nicht wissen. Es war so duftig letztes Jahr, so etwas Frisches, Knospiges, ganz und gar Neues. Das wollte ich wiederhaben. Dass sich etwas, geändert hat, heute sag ich, alles geändert hat, möchte ich nicht fühlen, nicht denken. Ich lass es nicht rein. Also sitz ich mit Jocelynne wieder in den Felsen, schau in die Brandung und schau zu ihr. Ich finde sie immer noch so schön, aber es macht mir nicht mehr Ameisen in allen Gliedern.
Selbst als Bea zu der Gruppe in der Auberge dazustößt - Bea
aus Köln, die khakifarbene Maomütze hält ihr Haar nur mühsam zusammen - selbst
als ich mich so verhalte, dass jeder andere längst wusste: Er hat nur noch
Augen für Bea, klammer ich mich noch an die Geschichte mit meiner süßen
Brieffreundin. Ich gehe mit Bea in der „Tarantel“ tanzen bis die Bar schließt.
Auf dem Rückweg, quer über den Strand, setzen wir uns nur kurz und wachen erst
wieder auf als es uns zu heiß wird in der Morgensonne. Am Abend als Jocelynne
vorbeikommt gehen wir wieder händchenhaltend spazieren.
Es dauert zwanzig Jahre bis ich lerne: Ich wollte mich nicht
entscheiden müssen. Ich wollte die eine Geschichte nicht loslassen und die
andere doch haben. Und so hab ich’s ja auch gemacht. Ich hab das eine
festgehalten und das andere trotzdem gelebt, aber ich hab es mir nicht
eingestanden. Ich trennte, in der säuberlich spaltenden Schizophrenie des
Abendländers meine beiden
Erlebnisbereiche und war mir dessen nicht bewusst. Ich durfte dafür kein
Bewusstsein haben, ich durfte es nicht einmal denken. In jeder Situation muss
ich etwas Grosses ausklammern, damit
ist schon die halbe Kraft gebunden, also kann ich mich nicht total auf diesen Augenblick
einlassen, sondern eben immer nur halb, die andere Hälfte ist mit der
Vermeidung beschäftigt.
Dann der 27jährige. Festgefahren in seiner Ehe. Er zog aus
dem gemeinsamen Schlafzimmer aus, richtete sich ein eigenes Zimmer ein. Tisch
und Stuhl, ein Schrank, eine Pritsche. Eine Zelle, eine Klause, da fühlte er
sich wohl. An die einzige freie Wand hatte er mit Bleistift eine Buddhafigur
gezeichnet, eine auf Lebensgröße aufgeblasene Kopie eines Fotos aus einem
tibetischen Tempel. Mit Farbe malte er die vorgezeichneten Linien aus. Jede Nacht
ein Stückchen weiter. Was macht der da? „Ich kompensiere“. Das war ihm klar,
aber mehr ging nicht. Der Druck seiner Situation machte ihn blind, den Rest
seiner Realität wahrzunehmen: zwei kleine Kinder, eine Frau, mit der er sich
festgefahren hatte, zwei Berufe, weil er mit einem Gehalt nicht genug nach
hause bringen konnte. Er dachte sich in seiner Zelle: „Ich fühle mich angezogen
von diesen Buddhadarstellungen, es beruhigt mich, daran zu malen. Anagarika
Govinda, der Autor des Buches über Tibet, aus dem das Foto stammte, was für ein
Leben! Bewundernswert. Er hat einen Meister gefunden, in Tibet und konnte zehn
Jahre lang bei ihm lernen. Aber Tibet ist heute verschlossen, der Meister ist
längst tot und ich bin hier gebunden und male einen lebensgroßen Buddha an die
Wand. Basta.“
Freunde, die ihn besuchten sagten, er ist Buddhist geworden.
Er wies es weit von sich.
Wieder zehn Jahre später, inzwischen Sannyasin, dachte ich,
ja, das wars, was ich vor zehn Jahren in meiner Zelle gemacht hab. Ich hab den
spirituellen Weg betreten. Ich hab es gemacht und hab es nicht bemerkt, nicht
denken können, von Bewusstsein gar nicht zu reden.
Der 27jährige glaubt, er versteht den 17jährigen besser als
der sich selbst verstanden hat, und der 37jährige, inzwischen im Ashram in
Indien gelandet, scheint ein Bewusstsein zu erlangen, das ihm erschließt, was
dem 27jährigen nicht klar war. Der hat zwar gehandelt, er war offenbar geführt,
gesteuert, getrieben zu tun was er tat, aber er hatte keinen Plan.
Der 67jährige sieht den 37jährigen durch das gateless gate
gehen, sieht ihn vor dem Meister sitzen, der ihm den Daumen auf die Stirn
drückt und glaubt heute die Berührung lebendiger zu spüren als vor dreißig
Jahren. Damals ging ihm nur durch den Kopf „der hat einen Daumen wie ein Zimmermann.“
Irgendwie bin ich nie gleichzeitig. Ich bin nicht auf der
Höhe meiner Zeit, nicht im aktuellen Moment des Geschehens. Als ob ich erst im Nachhinein
in der Lage bin, das Erlebnis sich richtig entfalten zu lassen. Immer im Nachhinein
dämmert es mir. Dann kommt mir die Einsicht und es ist, als hätte das Ereignis
vor zehn Jahren mir bereits eröffnet was sich erst viel später ins innere Sehen
durchringt.
Und jetzt? Jetzt hab ich den Verdacht, dass in zehn Jahren
ein 77jähriger Rajan auf den Autor dieser Zeilen schauen wird und sagen: Er hat
es nicht geblickt, blind, taub, fühllos. Wo hat er nur seine Augen gehabt.
Seine inneren Augen? Ich weiß natürlich nicht, was der dann an mir entdecken
wird, was mir heute verborgen ist; aber, mir schwant, dass er sagen wird: „Du
warst dir nicht bewusst, dass immer schon alles da war. Nichts hat jemals
gefehlt, du bist dir nur einfach gedanklich immer voraus oder hinten
nachgeeilt.“
Ich wünsch mir so sehr gleichzeitig zu sein mit mir. Jetzt
zu sein, wenn jetzt ist und mich nicht erst in zehn Jahren für das zu öffnen
was gerade jetzt durch mich hindurchrauscht.
Ist das vielleicht dann Glück?
Rajan
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