„Mein Ding mit den Frauen nervt
mich total. Vor sechs Jahren bin ich nach fünfjähriger Ehe geschieden worden.
Seitdem hatte ich drei oder vier Beziehungen, weiß gar nicht mehr genau. Ich
scheine die Richtige einfach nicht zu finden. Oder vielleicht liegt es ja an
mir selbst. Ich glaube ich bin beziehungsunfähig.“
Diese Befürchtung oder diese Überzeugung
bestimmte die Arbeit in den folgenden Sitzungen. Die Mutterbeziehung kam ins
Bild. Erwartungen mussten geklärt werden. Was wollte er von seiner
Lebenspartnerin und was forderte er von sich selbst? Unter anderem konnte er
ein Muster entdecken, nach welchem er eine neue Partnerin anfangs direkt in den
Himmel hob. Seine Phantasie machte aus ihr die Langersehnte, die Einmalige, die
Ausnahmefrau. War der erste Zucker aber abgegessen, fand er heraus, dass die
Geliebte seinen Phantasien nicht entsprach und dann fing er an, sie dafür zu
bestrafen. Das war seine Art, die Beziehung zu demontieren und so schien er es
immer wieder zu machen.
Eine zweite große Überzeugung,
die überprüft werden musste, betraf den Beruf. „Ich hab keine Arbeitsmoral
mehr“, lamentierte Alwin. „Früher hab ich gerne und freiwillig Überzeit
gearbeitet. Jetzt schlepp´ ich mich nur noch in die Firma. Ich habe alle Lust
an meiner Tätigkeit verloren und wünsche mir nur noch den Feierabend herbei.
Sobald mein Abteilungsleiter auftaucht, ist es, als tritt mir jemand in den Magen. Er treibt mich noch zum Wahnsinn. Nichts
kann ich ihm recht machen. Wie ich mich auch anstrenge, er nimmt mich nicht
wahr.“
Um dieses Spannungsverhältnis anschaulich
zu machen wollte ich, dass Alwin ein Gespräch mit seinem Chef spielt und
versucht, ihm all das zu sagen, was er immer zurückgehalten hatte. Es dauerte
nicht lange bis klar wurde, hier steht nicht ein Mitarbeiter vor seinem Chef,
sondern ein kleiner Junge vor seinem Vater. Wir nahmen den Rollentausch vor. An
die Stelle des Chefs trat der Vater. In der weiteren Arbeit zeigte sich, dass er es dem Vater immer hatte
recht machen wollen. Er hatte alles getan um die Aufmerksamkeit und Achtung des
Vaters zu gewinnen, hatte den Vater aber als abweisend und am eigenen Sohn
uninteressiert erlebt.
Er wollte geliebt werden und
erlebte immer wieder, dass all seine Bemühungen fruchtlos blieben. Wie Alwin so
vor mir saß, bestand kein Zweifel, er wollte noch immer vom Vater geliebt
werden. Eine klassische, offene Gestalt also, um deren Schließung sich Alwins
System in jeder neuen Lebenssituation bemühte, die der unerledigten Beziehung irgendwie ähnlich war. In seiner Wahrnehmung
hatte ihn der Abteilungsleiter zuerst angefüttert und ihn damit zu
Höchstleistungen angespornt, ihn dann aber wegen eines neuen Mitarbeiters
fallen gelassen wie eine heiße Kartoffel.
Nach einem Jahr gemeinsamer
Arbeit berichtete Alwin, dass sich aktuell eine neue Beziehung anbahnte. Er
hatte begonnen mit einer Kollegin auszugehen, die er schon seit langem kannte.
„Ich sehe sie jetzt mit ganz anderen Augen“, meinte er. Außerdem beobachtete er,
dass er diesmal nicht mit allen Vieren voran in die neue Beziehung sprang, wie
das früher sein Muster gewesen war und er staunte selbst darüber, dass er der
Beziehung Raum gab, so dass sie sich in ihrer eigenen Dynamik entwickeln konnte.
Auch in der Firma hatte sich
etwas Neues ergeben. Durch einen Personalwechsel sah sich Alwin mit einem jüngeren
Gruppenleiter konfrontiert, der dem Vater völlig unähnlich war, Ihm kam es
jedenfalls so vor, als sei es ihm damit leicht gemacht worden, seine
Projektionen bei sich zu behalten.
Als eine neue Wohnung in Aussicht stand, hatten die Bereiche
Beziehung, Beruf, Wohnung neue Formen
angenommen. Alles schien geregelt. Alwin fühlte sich wie „auf zu neuen Ufern“.
Während der nächsten Wochen hörte ich nichts von ihm. Anfang November bat er erneut
um einen Termin.
„In so vielen Bereichen meines
Lebens ist es jetzt um Klassen besser, als es noch vor einem Jahr war. Aber ich
bemerke, wie sich in jüngster Zeit eine Stimmung anbahnt, die, wenn sie ganz
entfaltet sein wird, nicht mehr sprudelt, sondern nur noch tröpfelt und ich
kann es mir nicht erklären.“
„Als ob dir jemand oder etwas
alle Energie abzieht?“
„Nein, es ist eher wie ein
ungestilltes Bedürfnis. Etwas, wie ein seit langem unterschwellig existierender
Mangel, der mir zunehmend bewusster wird, je weniger andere Probleme ich habe.“
„Ein seit langem ungestilltes
Bedürfnis?“
„Ja, vielleicht eher so etwas
wie: Ich gehöre nirgendwo dazu. So etwas Heimatloses.“
„Kein Zuhause?“
„Wow, darauf reagiere ich ganz
stark. Sehen Sie, die Haare sträuben sich auf meinen Unterarmen. Gänsehaut
überall. Kein Zuhause. Nicht im Betrieb, nicht bei meiner neuen Freundin, nicht
in meiner eigenen Wohnung.“
„Geht es um Sicherheit?“
„Eher ein Gefühl von
Geborgenheit. Ich will mich aufgehoben, erwünscht, zugehörig fühlen.“.
Es stellte sich heraus, dass der
Vater Bergmann war. „Die Bergleute hatten einen starken Zusammenhalt. Diese
Männer besaßen ein ausgeprägtes Selbstbewusstsein. Mein Vater war Bergmann,
mein Großvater war Bergmann. Die Brüder meines Vaters arbeiteten unter Tage und
alle lebten und arbeiteten in dem Bewusstsein, dass sie die Energie
bereitstellten für jedes zweite Rad, das sich in Deutschland drehte. Mit Kohle
wurde Strom erzeugt, mit Kohle wurde Erz geschmolzen. Kohle machte die
Fabrikschlote rauchen. Der Stand der Bergleute war sich seiner
gesellschaftlichen Bedeutung bewusst. Man konnte stolz sein ein Bergmann zu
sein. Die Mutter und die Großmutter verstanden sich als Bergmannsfrauen. Man
lebte in der Bergmannssiedlung. Es gab eine eigene Kranken- und
Altersversorgung und überall wurden Freizeitheime für die Wochenendgestaltung kollektiv betrieben.“
„Und du bist nicht Bergmann
geworden?“
“Jung, sagte mein Vater, du
sollst nicht Kohlenstaub fressen und in den Schächten buckeln müssen. Du
musst es anders machen als ich, du musst es besser machen. Schau mich an: Ich bin
fertig. Meine Knochen sind kaputt. Ich werd´ wohl nicht viel von meiner Rente
haben.“ Er wusste, so führte Alwin aus, dass die Zeit der Kohle zu Ende ging.
Eine nach der andern wurden die Zechen geschlossen. „Du musst studieren, Jung´,
das hat Zukunft.“ (Nach diesen Worten habe ich gefragt, weshalb er immer noch
an der Ansicht festhielt, der Vater habe ihn nicht gesehen.)
Alwin hatte studiert. Er hatte
eine Festanstellung bekommen und gutes
Geld nach Hause gebracht. Die Frau, die er vor zwölf Jahren geheiratet hatte,
war Beamtentochter. Man hatte in einem Viertel gewohnt, das dem seiner Herkunft
in nichts zu vergleichen war. In dieser Sitzung, im Nov. 2016 wurde ihm (und im
Gleichschritt auch mir) klar, dass er den sozialen Ort seiner Herkunftsfamilie
verlassen hatte.
Gemeinschaft, das wurde ihm heute
klar, war für Alwin gleichbedeutend mit den Zusammenkünften in den
Schrebergärten hinter der Siedlung. Das waren die derben Sprüche der Männer,
die sich zuprosteten. Da wurden Geburtstage gefeiert und Todesfälle gemeinsam
getragen. Es gab die Gruppe der Gleichaltrigen, mit denen man die Kindheit und
Jugend durchlief.
Es gab eine Form des Zusammenseins,
die untrennbar mit dem Erwerbsleben der Männer gekoppelt war.
„Heute verkehre ich hauptsächlich
mit meinen Klienten. Das ist mein sozialer Bezug.“ Hier wurde er nachdenklich:
“Als ob ich darauf aus wäre, immer eine Distanz zu halten“. Der Vater war schon
vor Jahren gestorben. Er hatte nicht einmal das Ruhestandsalter erreicht. „Die
Mutter lebt noch. Sie freut sich, wenn ich sie besuche. Aber ich gehe gar nicht
gerne zu ihr hin. Es dauert nie lange, dann könnte ich heulen und eine
Viertelstunde später merk´ ich, wie ich wütend werde. Dann ist es besser, ich
gehe.“
An dieser Stelle entwickelte
Alwin einen neuen Sachverhalt . Die Bergmannsidylle war zuhause beständig
beschworen worden. Dabei war es immer um die Familie des Vaters gegangen. Die
Familie der Mutter aber war verschwiegen, ja sogar aktiv ausgegrenzt worden.
Als Alwin zu diesem Kapitel der Familiengeschichte kam, liefen ihm Tränen
über die Wangen.
Das großelterliche Haus der
mütterlichen Seite nämlich, war der Ort, den Alwin mit Geborgenheit und Zugehörigkeit verband.
Sofort war zu spüren, dass es zum Großvater eine tiefe Liebe gegeben hatte und
immer noch gab. Dieser Großvater war „nur“ ein einfacher Arbeiter gewesen. Er
hatte das Haus, in dem er mit der Großmutter lebte, eigenhändig erbaut. Für Alwin war er ein Mann, der alles
konnte, alles verstand und der immer für ihn Zeit gehabt hatte.
Alwin konnte sich nicht daran
erinnern, was die Familien entzweit hatte. Er konnte sich nur daran erinnern,
dass gegen Ende der Kindheit eine Zeit begann, in der die Familie seiner Mutter
nicht mehr eingeladen wurde und in der er und seine Schwester diese Großeltern
auch nicht mehr besuchen durften. Später fanden wir heraus, dass dies auch der
Zeitpunkt war, zu welchem Alwin auf eine weiterführende Schule gewechselt hatte.
Heute wurde deutlich, Alwin hatte
innerhalb von 15 Jahren zweimal den sozialen Ort gewechselt. Diese Wechsel waren
leise, schleichend erfolgt. Niemand hatte darüber gesprochen, umso eher blieb
das tiefe, innere Bedürfnis nach Zugehörigkeit und Geborgenheit unbefriedigt.
Nicht seine Frau, nicht die Arbeitskollegen, nicht seine Klienten konnten diese
Sehnsucht stillen.
Heute war der Tag, an dem es
erkannt und benannt wurde. Von jetzt an
war der Mangel bewusst. Der freie, unbesetzte Platz war geortet worden. Jetzt
mochte die Zukunft zeigen, ob diese vakante Stelle neu besetzt werden wird.
Was ich aus dieser Arbeit gelernt
habe ist eine Erweiterung der Dreiheit Beruf, Beziehung, Wohnung. Denn nun
weiß ich, dass ich ein viel weiter gefasstes Verständnis von Wohnung brauche.Wohnung steht von jetzt an für „Der
soziale Ort“. Jeder Leser mag sich an dieser Stelle fragen: Wie würde ich den
sozialen Ort beschreiben, an dem ich mich in dieser Phase meines Lebens
befinde? Und: Bin ich glücklich an diesem sozialen Ort? Gehöre ich hier hin?
Bei der therapeutischen Arbeit
mit Immigranten war mir das Thema Verlust des sozialen Ortes immer wieder schreiend
deutlich geworden. Bei der Iranerin, die als Studentin 1979 ihren kulturellen
und sozialen Hintergrund verloren hatte und vor Verfolgung nach Deutschland geflohen
war. Oder mein indischer Klient, der mit sechs Jahren den Eltern in den Westen
folgen musste und sich dort von heute auf morgen mit einer neuen Sprache, mit
unbekannten Umgangsformen und mit einer fremden Religion konfrontiert sah.
Bei den aus dem
Ausland zugewanderten Klienten war mir jedes Mal klar, dass der Verlust der
Heimat ein zentrales Thema darstellte, das sichtbar gemacht werden musste, weil
andernfalls die Persönlichkeitsentwicklung stagnierte. Jetzt weiß ich, dass
dies auch für unsere Landsleute gilt. Der Wechsel des sozialen Ortes ist für
niemanden eine Kleinigkeit. Mir selbst jedenfalls, war dieser Umstand bisher nicht
so bewusst wie jetzt, seit der Begleitung von Alwin.
Erläuterungen zu „Sozialer Ort“
Ich benutze
„Sozialer Ort“ hier als Sammelbegriff, der wie ein Schirm folgende Aspekte
überspannt: a) soziales Umfeld, b) kulturelle Prägung, c) ethisches und
religiöses Weltbild, d) Zugehörigkeit zu einer sozialen Schicht.
a)
Das soziale Umfeld ist der Pflanzkasten, in dem
wir wurzeln und wachsen. Gemeint ist das Elternhaus, in dem wir unsere Kindheit
und Jugend verbrachten, oder der Haushalt einer Tante, zu der wir gegeben
wurden, weil die Mutter nicht zur Verfügung
stand, oder gelegentlich auch ein Kinderheim. Zum sozialen Umfeld
gehören die Menschen aus der Nachbarschaft, die Jugendgruppe im Sport- oder Musikverein und der Klassenverband in
der Schule.
Ob unser Klient in
einem Haus groß geworden ist, in dem Künstler aus- und eingingen, ob er auf einem Bauernhof oder
in der Arbeitersiedlung aufgewachsen ist,
das macht für einen Heranwachsenden einen gewaltigen Unterschied. Gravierend
dabei ist, was ihn in diesen ersten zehn bis 15 Jahren prägt, betrachtet er
später als normal. Alles, was davon abweicht, wird er skeptisch betrachten oder
rundweg ablehnen.
b)
Bei der kulturellen Prägung geht es um die Kulturtechniken, Lesen,
Schreiben, Rechnen. Darüber hinaus geht es um grundlegende Regeln des
zwischenmenschlichen Umgangs, um Verständnis von bildender Kunst und Musik, um
den Erwerb der gängigen Symbolsprache und um das Verstehen von Mimik und Gestik.
Kulturelle Prägung umfasst alles was zivilisatorische Errungenschaften sind,
von der Art den Tisch zu decken, mit Messer und Gabel zu essen oder mit
Stäbchen, bis zur Kenntnis der Etikette, die bei offiziellen
Staatangelegenheiten gelten.
c)
Ein sozialer Ort ist zudem auch durch
grundlegende religiöse und ethische Vorbilder geprägt. Was gut und was edel
ist, was Ehrlichkeit, Wahrheit, Verlässlichkeit betrifft. Aus dem sozialen
Umfeld stammen auch die Einstellungen zu Liebe, Geburt und Tod und die
Vorbilder für den Umgang mit den Mysterien.
Die
Randgruppen-Jugendlichen, mit denen ich in meiner Jugendhauszeit zu tun hatte,
besaßen häufig kein Unrechtsbewusstsein für die Kleinkriminalität, für die der
Jugendrichter sie immer wieder verurteilte. Aus einer offenen Kasse eine Handvoll Geld mitnehmen, weil
man schnell und geschickt ist, das ist doch normal. Ihre Brüder, ihre Nachbarn,
ihre Onkel aus dem Wohngebiet haben es ihnen oft genug vorgemacht. Wenn man
dabei nicht erwischt wurde, konnte ein kleiner Fischzug zuhause durchaus Lob
und Anerkennen einbringen.
Seit langem achte ich auf
den religiösen Hintergrund, den ein Klient mitbringt und ich habe gelernt, dass
es nicht nur darauf ankommt, ob mein Klient aus einem moslemischen oder einem
christlichen Haus kommt, wenn ich ihn verstehen will. Es macht auch einen
deutlichen Unterschied im Wertesystem eines Menschen ob er in einem
protestantischen oder einem katholischen Umfeld aufgewachsen ist.
d)
Ein sozialer Ort lässt sich auf jeden Fall durch
die Zugehörigkeit zu einer sozialen Schicht bestimmen. Angehörige verschiedener
gesellschaftlicher Schichten haben unterschiedlichen Zugang zu Bildung, Besitz
und Macht. Ungelernte Arbeiter haben meist den niedrigsten Schulabschluss, kein
Vermögen und außer ihrem Stimmrecht bei politischen Wahlen keinen Einfluss auf
das gesellschaftliche Geschehen. Die gebildete Mittelschicht zeichnet sich
durch Hochschulabschlüsse, durch ein bescheidenes aber stabiles Vermögen und
dadurch aus, dass sie auf jeden Fall theoretisch Zugang zu politischen Ämtern
hat. Die Gruppe der Spitzenverdiener zeichnet sich durch ihr unverhältnismäßig großes Privatvermögen
aus und durch ungehinderten Zugang zu Bildung
und Macht, ungeachtet dessen ob sie ihre Privilegien nutzen oder nicht.
(Diese Darstellung ist sehr vereinfacht, aber sie kann dennoch deutlich machen, dass eine Vielzahl von Faktoren hereinspielt, wenn wir vom „sozialen Ort“ sprechen.)
(Diese Darstellung ist sehr vereinfacht, aber sie kann dennoch deutlich machen, dass eine Vielzahl von Faktoren hereinspielt, wenn wir vom „sozialen Ort“ sprechen.)
Ich hoffe, es
wurde deutlich, welch grundlegenden
Unterschied es für einen Menschen macht ob er im Haushalt eines
Geringverdieners, in einer Lehrerfamilie oder auf Schloss Guttenberg geboren
wird und aufgewächst.
Übrigens lebt die
Spannung in unzähligen Romanen davon, dass sich Angehörige verschiedener
sozialer Schichten ineinander verlieben. Die Gräfin, die eine Affäre mit dem
Gärtner hat (Lady Chatterley). Der Professor, der alles aufgibt, um mit einer Varieté-Künstlerin
zusammen leben zu können (Professor Unrat). Das tapfere Schneiderlein, das am
Ende die Königstochter heiratet. Immer
wieder der Traum, in dem es keine sozialen Grenzen gibt. Immer wieder die
Bewunderung für Menschen, die ungeachtet ihrer sozialen Herkunft auf die Stimme
ihres Herzens vertrauen. Und immer wieder das Drama und die oft tragische
Entwicklung solch ungleicher Verbindungen.
Was uns im
Zusammenhang mit dem Fallbeispiel „Alwin“ besonders interessiert, ist der
Wechsel des sozialen Ortes. Bei ihm war der zweite Wechsel des Umfeldes, den er
verarbeiten musste, der Schritt aus der Welt der Grubenarbeiter in die Welt der
Akademiker.
Als Alwin zehn
Jahre alt war, stand die Entscheidung an: Geht er weiter von der Grund- in die
Hauptschule oder wechselt er aufs Gymnasium? Alwin war ein guter Schüler, die
Lehrer, der Onkel, der Vater unterstützten den Schritt. Sie wollten alle nur
das Beste für den Jungen und dabei entging ihnen, dass sie ihn wohlmeinend und
völlig unbewusst aus seiner sozialen
Herkunft rauswarfen.
Für den Mann, der zwanzig
Jahre später vor mir saß, war nicht der Wechsel als solcher problematisch,
sondern der Umstand, dass er leise und unbemerkt geschah. In der Therapie
musste nun, was sich früher hinter dem Rücken unseres Klienten abgespielt hatte,
ins Blickfeld gebracht werden. Das unbewusste Geschehen konnte bewusst werden
und damit wechselt der Klient aus der passiven in die aktive Rolle.
Er ist Situationen
nicht mehr hilflos ausgeliefert, vielmehr kann er jetzt handelnd eingreifen und
aktiv Position beziehen. Er wird herausfinden, ob er einen Spagat machen möchte
zwischen zwei sozialen Zugehörigkeiten, ob er sich hier verabschieden und dort
einen Einstand nehmen will oder ganz krass, ob er in die alte Herkunft zurück
möchte, weil er in der neuen Gesellschaftsschicht nicht heimisch werden kann.
Bewusstheit
fördern, bei uns selbst und in der Arbeit mit anderen. Mehr können wir nicht
tun. Allein die Bewusstheit macht den Unterschied.
Rajan Roth
Juli 2017
http://www.gestalttherapie-esslingen.de/
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