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Wird leicht übersehen: Der soziale Ort eines Klienten


Alwin S. kam im Sommer 2015 zu mir, in einer Lebenskrise, wie er es selbst nannte. Seine Freundin hatte ihn vor kurzem verlassen. Auf der Arbeit gab es nur Stress und nach der Trennung wollte er sich eine neue, kleinere Wohnung  suchen. Diesen Zustandsbericht zu erarbeiten, nahm die gesamte erste Stunde in Anspruch. Am Ende der Sitzung war deutlich: Alwin erlebte dasselbe wie die überwiegende Mehrzahl aller Menschen, die sich in einer Lebenskrise befinden. Es stimmte in drei grundlegenden Bereichen nicht mehr: Beruf, Beziehung, Wohnung.

„Mein Ding mit den Frauen nervt mich total. Vor sechs Jahren bin ich nach fünfjähriger Ehe geschieden worden. Seitdem hatte ich drei oder vier Beziehungen, weiß gar nicht mehr genau. Ich scheine die Richtige einfach nicht zu finden. Oder vielleicht liegt es ja an mir selbst. Ich glaube ich bin beziehungsunfähig.“  

Diese Befürchtung oder diese Überzeugung bestimmte die Arbeit in den folgenden Sitzungen. Die Mutterbeziehung kam ins Bild. Erwartungen mussten geklärt werden. Was wollte er von seiner Lebenspartnerin und was forderte er von sich selbst? Unter anderem konnte er ein Muster entdecken, nach welchem er eine neue Partnerin anfangs direkt in den Himmel hob. Seine Phantasie machte aus ihr die Langersehnte, die Einmalige, die Ausnahmefrau. War der erste Zucker aber abgegessen, fand er heraus, dass die Geliebte seinen Phantasien nicht entsprach und dann fing er an, sie dafür zu bestrafen. Das war seine Art, die Beziehung zu demontieren und so schien er es immer wieder zu machen.

Eine zweite große Überzeugung, die überprüft werden musste, betraf den Beruf. „Ich hab keine Arbeitsmoral mehr“, lamentierte Alwin. „Früher hab ich gerne und freiwillig Überzeit gearbeitet. Jetzt schlepp´ ich mich nur noch in die Firma. Ich habe alle Lust an meiner Tätigkeit verloren und wünsche mir nur noch den Feierabend herbei. Sobald  mein Abteilungsleiter auftaucht, ist es, als tritt mir jemand in den Magen. Er treibt mich noch zum Wahnsinn. Nichts kann ich ihm recht machen. Wie ich mich auch anstrenge, er nimmt mich nicht wahr.“

Um dieses Spannungsverhältnis anschaulich zu machen wollte ich, dass Alwin ein Gespräch mit seinem Chef spielt und versucht, ihm all das zu sagen, was er immer zurückgehalten hatte. Es dauerte nicht lange bis klar wurde, hier steht nicht ein Mitarbeiter vor seinem Chef, sondern ein kleiner Junge vor seinem Vater. Wir nahmen den Rollentausch vor. An die Stelle des Chefs trat der Vater. In der weiteren Arbeit  zeigte sich, dass er es dem Vater immer hatte recht machen wollen. Er hatte alles getan um die Aufmerksamkeit und Achtung des Vaters zu gewinnen, hatte den Vater aber als abweisend und am eigenen Sohn uninteressiert erlebt.

Er wollte geliebt werden und erlebte immer wieder, dass all seine Bemühungen fruchtlos blieben. Wie Alwin so vor mir saß, bestand kein Zweifel, er wollte noch immer vom Vater geliebt werden. Eine klassische, offene Gestalt also, um deren Schließung sich Alwins System in jeder neuen Lebenssituation bemühte, die der unerledigten Beziehung  irgendwie ähnlich war. In seiner Wahrnehmung hatte ihn der Abteilungsleiter zuerst angefüttert und ihn damit zu Höchstleistungen angespornt, ihn dann aber wegen eines neuen Mitarbeiters fallen gelassen wie eine heiße Kartoffel.  

Nach einem Jahr gemeinsamer Arbeit berichtete Alwin, dass sich aktuell eine neue Beziehung anbahnte. Er hatte begonnen mit einer Kollegin auszugehen, die er schon seit langem kannte. „Ich sehe sie jetzt mit ganz anderen Augen“, meinte er. Außerdem beobachtete er, dass er diesmal nicht mit allen Vieren voran in die neue Beziehung sprang, wie das früher sein Muster gewesen war und er staunte selbst darüber, dass er der Beziehung Raum gab, so dass sie sich in ihrer eigenen Dynamik entwickeln konnte.

Auch in der Firma hatte sich etwas Neues ergeben. Durch einen Personalwechsel  sah sich Alwin mit einem jüngeren Gruppenleiter konfrontiert, der dem Vater völlig unähnlich war, Ihm kam es jedenfalls so vor, als sei es ihm damit leicht gemacht worden, seine Projektionen bei sich zu behalten.

Als eine neue Wohnung  in Aussicht stand, hatten die Bereiche Beziehung, Beruf, Wohnung  neue Formen angenommen. Alles schien geregelt. Alwin fühlte sich wie „auf zu neuen Ufern“. Während der nächsten Wochen hörte ich nichts von ihm. Anfang November bat er erneut um einen Termin.

„In so vielen Bereichen meines Lebens ist es jetzt um Klassen besser, als es noch vor einem Jahr war. Aber ich bemerke, wie sich in jüngster Zeit eine Stimmung anbahnt, die, wenn sie ganz entfaltet sein wird, nicht mehr sprudelt, sondern nur noch tröpfelt und ich kann es mir nicht erklären.“
„Als ob dir jemand oder etwas alle Energie abzieht?“
„Nein, es ist eher wie ein ungestilltes Bedürfnis. Etwas, wie ein seit langem unterschwellig existierender Mangel, der mir zunehmend bewusster wird, je weniger andere Probleme ich habe.“
„Ein seit langem ungestilltes Bedürfnis?“
„Ja, vielleicht eher so etwas wie: Ich gehöre nirgendwo dazu. So etwas Heimatloses.“
„Kein Zuhause?“
„Wow, darauf reagiere ich ganz stark. Sehen Sie, die Haare sträuben sich auf meinen Unterarmen. Gänsehaut überall. Kein Zuhause. Nicht im Betrieb, nicht bei meiner neuen Freundin, nicht in meiner eigenen Wohnung.“
„Geht es um Sicherheit?“
„Eher ein Gefühl von Geborgenheit. Ich will mich aufgehoben, erwünscht, zugehörig fühlen.“.
Es stellte sich heraus, dass der Vater Bergmann war. „Die Bergleute hatten einen starken Zusammenhalt. Diese Männer besaßen ein ausgeprägtes Selbstbewusstsein. Mein Vater war Bergmann, mein Großvater war Bergmann. Die Brüder meines Vaters arbeiteten unter Tage und alle lebten und arbeiteten in dem Bewusstsein, dass sie die Energie bereitstellten für jedes zweite Rad, das sich in Deutschland drehte. Mit Kohle wurde Strom erzeugt, mit Kohle wurde Erz geschmolzen. Kohle machte die Fabrikschlote rauchen. Der Stand der Bergleute war sich seiner gesellschaftlichen Bedeutung bewusst. Man konnte stolz sein ein Bergmann zu sein. Die Mutter und die Großmutter verstanden sich als Bergmannsfrauen. Man lebte in der Bergmannssiedlung. Es gab eine eigene Kranken- und Altersversorgung und überall wurden Freizeitheime für die Wochenendgestaltung  kollektiv betrieben.“
„Und du bist nicht Bergmann geworden?“
“Jung, sagte mein Vater, du sollst nicht Kohlenstaub fressen und in den Schächten buckeln müssen. Du musst  es anders machen als ich, du musst es besser machen. Schau mich an: Ich bin fertig. Meine Knochen sind kaputt. Ich werd´ wohl nicht viel von meiner Rente haben.“ Er wusste, so führte Alwin aus, dass die Zeit der Kohle zu Ende ging. Eine nach der andern wurden die Zechen geschlossen. „Du musst studieren, Jung´, das hat Zukunft.“ (Nach diesen Worten habe ich gefragt, weshalb er immer noch an der Ansicht festhielt, der Vater habe ihn nicht gesehen.)

Alwin hatte studiert. Er hatte eine Festanstellung bekommen und gutes Geld nach Hause gebracht. Die Frau, die er vor zwölf Jahren geheiratet hatte, war Beamtentochter. Man hatte in einem Viertel gewohnt, das dem seiner Herkunft in nichts zu vergleichen war. In dieser Sitzung, im Nov. 2016 wurde ihm (und im Gleichschritt auch mir) klar, dass er den sozialen Ort seiner Herkunftsfamilie verlassen hatte.

Gemeinschaft, das wurde ihm heute klar, war für Alwin gleichbedeutend mit den Zusammenkünften in den Schrebergärten hinter der Siedlung. Das waren die derben Sprüche der Männer, die sich zuprosteten. Da wurden Geburtstage gefeiert und Todesfälle gemeinsam getragen. Es gab die Gruppe der Gleichaltrigen, mit denen man die Kindheit und Jugend durchlief.
Es gab eine Form des Zusammenseins, die untrennbar mit dem Erwerbsleben der Männer gekoppelt  war.

„Heute verkehre ich hauptsächlich mit meinen Klienten. Das ist mein sozialer Bezug.“ Hier wurde er nachdenklich: “Als ob ich darauf aus wäre, immer eine Distanz zu halten“. Der Vater war schon vor Jahren gestorben. Er hatte nicht einmal das Ruhestandsalter erreicht. „Die Mutter lebt noch. Sie freut sich, wenn ich sie besuche. Aber ich gehe gar nicht gerne zu ihr hin. Es dauert nie lange, dann könnte ich heulen und eine Viertelstunde später merk´ ich, wie ich wütend werde. Dann ist es besser, ich gehe.“

An dieser Stelle entwickelte Alwin einen neuen Sachverhalt . Die Bergmannsidylle war zuhause beständig beschworen worden. Dabei war es immer um die Familie des Vaters gegangen. Die Familie der Mutter aber war verschwiegen, ja sogar aktiv ausgegrenzt worden. Als Alwin zu diesem Kapitel der Familiengeschichte kam, liefen ihm Tränen über die Wangen.

Das großelterliche Haus der mütterlichen Seite nämlich, war der Ort, den Alwin  mit Geborgenheit und Zugehörigkeit verband. Sofort war zu spüren, dass es zum Großvater eine tiefe Liebe gegeben hatte und immer noch gab. Dieser Großvater war „nur“ ein einfacher Arbeiter gewesen. Er hatte das Haus, in dem er mit der Großmutter lebte, eigenhändig erbaut. Für Alwin war er ein Mann, der alles konnte, alles verstand und der immer für ihn Zeit gehabt hatte.

Alwin konnte sich nicht daran erinnern, was die Familien entzweit hatte. Er konnte sich nur daran erinnern, dass gegen Ende der Kindheit eine Zeit begann, in der die Familie seiner Mutter nicht mehr eingeladen wurde und in der er und seine Schwester diese Großeltern auch nicht mehr besuchen durften. Später fanden wir heraus, dass dies auch der Zeitpunkt war, zu welchem Alwin auf eine weiterführende Schule gewechselt hatte.

Heute wurde deutlich, Alwin hatte innerhalb von 15 Jahren zweimal den sozialen Ort gewechselt. Diese Wechsel waren leise, schleichend erfolgt. Niemand hatte darüber gesprochen, umso eher blieb das tiefe, innere Bedürfnis nach Zugehörigkeit und Geborgenheit unbefriedigt. Nicht seine Frau, nicht die Arbeitskollegen, nicht seine Klienten konnten diese Sehnsucht stillen.

Heute war der Tag, an dem es erkannt und benannt  wurde. Von jetzt an war der Mangel bewusst. Der freie, unbesetzte Platz war geortet worden. Jetzt mochte die Zukunft zeigen, ob diese vakante Stelle neu besetzt werden wird.

Was ich aus dieser Arbeit gelernt habe ist eine Erweiterung der Dreiheit Beruf, Beziehung, Wohnung. Denn nun weiß ich, dass ich ein viel weiter gefasstes Verständnis von Wohnung brauche.Wohnung  steht von jetzt an für „Der soziale Ort“. Jeder Leser mag sich an dieser Stelle fragen: Wie würde ich den sozialen Ort beschreiben, an dem ich mich in dieser Phase meines Lebens befinde? Und: Bin ich glücklich an diesem sozialen Ort? Gehöre ich hier hin?

Bei der therapeutischen Arbeit mit Immigranten war mir das Thema Verlust des sozialen Ortes immer wieder schreiend deutlich geworden. Bei der Iranerin, die als Studentin 1979 ihren kulturellen und sozialen Hintergrund verloren hatte und vor Verfolgung nach Deutschland geflohen war. Oder mein indischer Klient, der mit sechs Jahren den Eltern in den Westen folgen musste und sich dort von heute auf morgen mit einer neuen Sprache, mit unbekannten Umgangsformen und mit einer fremden Religion konfrontiert sah.

Bei den aus dem Ausland zugewanderten Klienten war mir jedes Mal klar, dass der Verlust der Heimat ein zentrales Thema darstellte, das sichtbar gemacht werden musste, weil andernfalls die Persönlichkeitsentwicklung stagnierte. Jetzt weiß ich, dass dies auch für unsere Landsleute gilt. Der Wechsel des sozialen Ortes ist für niemanden eine Kleinigkeit. Mir selbst jedenfalls, war dieser Umstand bisher nicht so bewusst wie jetzt, seit der Begleitung von Alwin.


Erläuterungen zu „Sozialer Ort“

Ich benutze „Sozialer Ort“ hier als Sammelbegriff, der wie ein Schirm folgende Aspekte überspannt: a) soziales Umfeld, b) kulturelle Prägung, c) ethisches und religiöses Weltbild, d) Zugehörigkeit zu einer sozialen Schicht.

a)      Das soziale Umfeld ist der Pflanzkasten, in dem wir wurzeln und wachsen. Gemeint ist das Elternhaus, in dem wir unsere Kindheit und Jugend verbrachten, oder der Haushalt einer Tante, zu der wir gegeben wurden, weil die Mutter nicht zur Verfügung  stand, oder gelegentlich auch ein Kinderheim. Zum sozialen Umfeld gehören die Menschen aus der Nachbarschaft, die Jugendgruppe im Sport- oder Musikverein und der Klassenverband in der Schule.
Ob unser Klient in einem Haus groß geworden ist, in dem Künstler aus-  und eingingen, ob er auf einem Bauernhof oder in der Arbeitersiedlung  aufgewachsen ist, das macht für einen Heranwachsenden einen gewaltigen Unterschied. Gravierend dabei ist, was ihn in diesen ersten zehn bis 15 Jahren prägt, betrachtet er später als normal. Alles, was davon abweicht, wird er skeptisch betrachten oder rundweg  ablehnen.
b)      Bei der kulturellen Prägung  geht es um die Kulturtechniken, Lesen, Schreiben, Rechnen. Darüber hinaus geht es um grundlegende Regeln des zwischenmenschlichen Umgangs, um Verständnis von bildender Kunst und Musik, um den Erwerb der gängigen Symbolsprache und um das Verstehen von Mimik und Gestik. Kulturelle Prägung umfasst alles was zivilisatorische Errungenschaften sind, von der Art den Tisch zu decken, mit Messer und Gabel zu essen oder mit Stäbchen, bis zur Kenntnis der Etikette, die bei offiziellen Staatangelegenheiten gelten.
c)      Ein sozialer Ort ist zudem auch durch grundlegende religiöse und ethische Vorbilder geprägt. Was gut und was edel ist, was Ehrlichkeit, Wahrheit, Verlässlichkeit betrifft. Aus dem sozialen Umfeld stammen auch die Einstellungen zu Liebe, Geburt und Tod und die Vorbilder für den Umgang mit den Mysterien.
Die Randgruppen-Jugendlichen, mit denen ich in meiner Jugendhauszeit zu tun hatte, besaßen häufig kein Unrechtsbewusstsein für die Kleinkriminalität, für die der Jugendrichter sie immer wieder verurteilte. Aus einer offenen Kasse eine Handvoll Geld mitnehmen, weil man schnell und geschickt ist, das ist doch normal. Ihre Brüder, ihre Nachbarn, ihre Onkel aus dem Wohngebiet haben es ihnen oft genug vorgemacht. Wenn man dabei nicht erwischt wurde, konnte ein kleiner Fischzug zuhause durchaus Lob und Anerkennen einbringen.
Seit langem achte ich auf den religiösen Hintergrund, den ein Klient mitbringt und ich habe gelernt, dass es nicht nur darauf ankommt, ob mein Klient aus einem moslemischen oder einem christlichen Haus kommt, wenn ich ihn verstehen will. Es macht auch einen deutlichen Unterschied im Wertesystem eines Menschen ob er in einem protestantischen oder einem katholischen Umfeld aufgewachsen ist.
d)      Ein sozialer Ort lässt sich auf jeden Fall durch die Zugehörigkeit zu einer sozialen Schicht bestimmen. Angehörige verschiedener gesellschaftlicher Schichten haben unterschiedlichen Zugang zu Bildung, Besitz und Macht. Ungelernte Arbeiter haben meist den niedrigsten Schulabschluss, kein Vermögen und außer ihrem Stimmrecht bei politischen Wahlen keinen Einfluss auf das gesellschaftliche Geschehen. Die gebildete Mittelschicht zeichnet sich durch Hochschulabschlüsse, durch ein bescheidenes aber stabiles Vermögen und dadurch aus, dass sie auf jeden Fall theoretisch Zugang zu politischen Ämtern hat. Die Gruppe der Spitzenverdiener zeichnet sich durch ihr unverhältnismäßig großes Privatvermögen aus  und durch ungehinderten Zugang zu Bildung und Macht, ungeachtet dessen ob sie ihre Privilegien nutzen oder nicht.
     (Diese Darstellung ist sehr vereinfacht, aber sie kann dennoch deutlich machen, dass eine Vielzahl von Faktoren hereinspielt, wenn wir vom „sozialen Ort“ sprechen.)
Ich hoffe, es wurde deutlich, welch grundlegenden Unterschied es für einen Menschen macht ob er im Haushalt eines Geringverdieners, in einer Lehrerfamilie oder auf Schloss Guttenberg geboren wird und aufgewächst.

Übrigens lebt die Spannung in unzähligen Romanen davon, dass sich Angehörige verschiedener sozialer Schichten ineinander verlieben. Die Gräfin, die eine Affäre mit dem Gärtner hat (Lady Chatterley). Der Professor, der alles aufgibt, um mit einer Varieté-Künstlerin zusammen leben zu können (Professor Unrat). Das tapfere Schneiderlein, das am Ende die Königstochter heiratet. Immer wieder der Traum, in dem es keine sozialen Grenzen gibt. Immer wieder die Bewunderung für Menschen, die ungeachtet ihrer sozialen Herkunft auf die Stimme ihres Herzens vertrauen. Und immer wieder das Drama und die oft tragische Entwicklung solch ungleicher Verbindungen.

Was uns im Zusammenhang mit dem Fallbeispiel „Alwin“ besonders interessiert, ist der Wechsel des sozialen Ortes. Bei ihm war der zweite Wechsel des Umfeldes, den er verarbeiten musste, der Schritt aus der Welt der Grubenarbeiter in die Welt der Akademiker.  
Als Alwin zehn Jahre alt war, stand die Entscheidung an: Geht er weiter von der Grund- in die Hauptschule oder wechselt er aufs Gymnasium? Alwin war ein guter Schüler, die Lehrer, der Onkel, der Vater unterstützten den Schritt. Sie wollten alle nur das Beste für den Jungen und dabei entging ihnen, dass sie ihn wohlmeinend und völlig  unbewusst aus seiner sozialen Herkunft rauswarfen.
Für den Mann, der zwanzig Jahre später vor mir saß, war nicht der Wechsel als solcher problematisch, sondern der Umstand, dass er leise und unbemerkt geschah. In der Therapie musste nun, was sich früher hinter dem Rücken unseres Klienten abgespielt hatte, ins Blickfeld gebracht werden. Das unbewusste Geschehen konnte bewusst werden und damit wechselt der Klient aus der passiven in die aktive Rolle.
Er ist Situationen nicht mehr hilflos ausgeliefert, vielmehr kann er jetzt handelnd eingreifen und aktiv Position beziehen. Er wird herausfinden, ob er einen Spagat machen möchte zwischen zwei sozialen Zugehörigkeiten, ob er sich hier verabschieden und dort einen Einstand nehmen will oder ganz krass, ob er in die alte Herkunft zurück möchte, weil er in der neuen Gesellschaftsschicht nicht heimisch werden kann.

Bewusstheit fördern, bei uns selbst und in der Arbeit mit anderen. Mehr können wir nicht tun. Allein die Bewusstheit macht den Unterschied.


Rajan Roth
Juli 2017

 http://www.gestalttherapie-esslingen.de/

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