Mind the Gap!
The Gap ist die Lücke
zwischen zwei Atemzügen. Der Augenblick, in dem die unablässige Kette der
Gedanken kurz abreißt. Ein Moment, in dem nicht gefühlt, nicht gedacht, nicht
gehandelt wird, in dem einfach alles aufhört. So etwas wie Stillstand. Das
tonlose Konzert der universellen Weite. Die Leere, die wunderbare Leere. Nur
aus ihr wird etwas Neues möglich. Solange der Strom der Gedanken nicht abreißt,
kann nur Altes, Bekanntes widergekäut
werden. Nur wenn sich ein kleiner Spalt auftut im fest gefügten Gebäude meiner
Meinungen, Ansichten und Überzeugungen, kann etwas Licht durch diesen Spalt in
uns hineinfallen und den Dämmerzustand unserer eingefahrenen Strukturen
vertreiben.
„Mind the Gap“, das ist die
Aufschrift an den Bahnsteigkanten der Londoner U-Bahn.
„Beachte die Lücke zwischen
Zug und Bahnsteig“. Eine unangenehme Vorstellung, da hineinzurutschen, aber ein
gutes Bild für „The Gap“. Der Spalt, in den man unerwarteter Weise hineingerät.
Die Lücke, in der das Unvorhersagbare passiert.
Der Weg von der Londoner U-Bahn
bis zur Überschrift für eine unserer Trainings-Gruppen ist gar nicht so weit.
Hier ist die Geschichte:
Es begann mit der
Heilpraktikerausbildung in Stuttgart, vor mehr als zwei Jahrzehnten. In den
ersten Jahren konzentrierten wir uns auf die reine Wissensvermittlung. Wir
wollten unsere Kursteilnehmer für die Überprüfung beim Amtsarzt fit machen. Wir
lernten bald, dass niemand erfolgreich eine Heilpraxis führt allein aufgrund
theoretischer, medizinischer Kenntnisse und einer bestandenen Prüfung. Dazu
brauchte es mehr.
Wir bauten in der Folge den
Sektor Fachausbildungen aus mit Akupunktur, Shiatsu, Homöopathie, TCM etc. Dennoch fehlte unseren Absolventen immer noch
etwas um ihre Arbeit therapeutisch wirksam zu machen. „Warum klappt es bei Dir?
Was hast Du, was wir nicht haben?“ Da wurde mir klar, dass meine Art mit
Klienten umzugehen auf die gesprächstherapeutische Ausbildung zurückging, die
ich während meines Sozialpädagogikstudiums durchlaufen hatte. Das führte zu dem
Entschluss, die Essenz des gesprächstherapeutischen Vorgehens an die
zukünftigen Heilpraktiker weitergeben.
Es ging um die
klientenzentrierte Therapie nach Carl Rogers. Eine Arbeit, bei der es nicht
darauf ankommt, Menschen mit geschickten psychologischen Tricks dahin zu
bringen, wo der Therapeut sie haben will oder sie sogar so raffiniert zu
manipulieren, dass sie es gar nicht bemerken. Ganz im Gegenteil. Carl Rogers
geht es darum, den Klienten in seiner Eigenart anzunehmen, ihm einfühlsam
zuzuhören und dabei immer er selbst zu bleiben. Er spielt dem Klienten nichts
vor, zieht sich nicht das glatte Mäntelchen der professionellen Perfektion an.
Vielmehr zeigt er sich als Mensch, so authentisch wie möglich.
Wenn wir mit unseren
Studentinnen und Studenten an diesem Punkt angelangt waren, stellte sich unvermeidlich
die Frage: Wenn das auch für mich gelten soll, dann muss ich herausfinden, wer
bin ich, wenn ich authentisch bin? Was ist meine Eigenart? Was ist echt?
An dieser Stelle kam Fritz
Perls und seine Gestalttherapie ins Spiel. Perls war der Meister der
Demaskierung. Er besaß die beängstigende und zugleich geniale Fähigkeit
Menschen so präzise zu beobachten, dass er allein aufgrund kleiner körperlicher
Regungen Konditionierungen aufzudecken vermochte. Verhaltensweisen,
Abwehrmechanismen, Selbstquälerspielchen, wie er das nannte, wurden den
Klienten oft in einer einzigen Sitzung bewusst. Mit diesen phantastischen
Möglichkeiten wollte ich unsere Studenten ebenfalls in Kontakt bringen.
So entstand, angeregt durch
die Arbeitsweise zweier großartiger Vorbilder, ein zehntägiger Kurs, der sich
„Gesprächs- und Gestalttherapie in der Praxis nannte.“ Natürlich waren wir der Meinung, jeder
zukünftige Heilpraktiker solle daran teilnehmen. Der Kurs war von Anfang an gut
gebucht, doch nun zeigte sich etwas, womit wir nicht gerechnet hatten: Sehr
bald kamen unsere Kursteilnehmer aus allen möglichen Lebensbereichen, nicht nur
aus den Kreisen der Heilpraktikeranwärter. Es hatte sich herumgesprochen, dass
in diesen zehn Tagen etwas Besonderes vermittelt wird. Etwas Grundlegendes, das
nicht nur für Profis Bedeutung hat.
Die behutsame und einfühlsame
Art, mit der Carl Rogers mit seinen Klienten umgeht, und die präzise,
unerbittlich auf Echtheit zentrierte Art von Fritz Perls kreierte eine
Atmosphäre in diesen Gruppen, wie ich sie zuvor nur im Ashram erlebt hatte. Es
entstand ein Miteinander unter Fremden, entwickelte sich eine Verbundenheit, wie
sie in dieser Dichte sonst kaum zu finden ist. Achtsamkeit kam auf und damit
eine Stimmung, die man am besten mit dem Wort „meditativ“ beschreiben kann.
Immer wieder war es in der Gruppenarbeit
zu Momenten gekommen, in denen der Tumult verebbt, die Hektik ausgelaufen, die
emsige Tüchtigkeit, die jeder mitgebracht hatte, aufgebraucht war. In diesen
Augenblicken der Stille konnte bei uns allen etwas Neues einziehen. Als könne
auf einmal das Unerhörte gehört, das Unsagbare gesagt werden. Deshalb erschien
mir der Titel „Gesprächs- und Gestalttherapie in der Praxis“ bald nicht mehr
passend. Dieser alte Titel sah so aus, als vermittelten wir nur das reine Handwerkszeug.
Das Handwerk zu lehren bildete zwar nach wie vor die Grundlage, aber der
Gruppenprozess trug uns regelmäßig darüber hinaus. Während wir Schritt für
Schritt einübten anders miteinander umzugehen, entfaltete sich immer wieder etwas, das wir
als Lücke wahrnehmen lernten. Mag kitschig klingen, aber wir empfanden diese
Lücke als „heiligen Augenblick“. Daraus entstand der neue Name für dieses
Training: „The Gap“.

Die wenigsten wissen, dass
Fritz Perls genau mit diesem Phänomen arbeitete. Er sagte: Wenn dein Klient die
Leere erlebt, dann halte ihn dort fest, führe ihn tiefer hinein. Hinterher wird
er verändert sein, ohne dass du sagen kannst, was in dieser Auszeit passiert
ist.
Einem Klienten einfühlsam
zuhören, sich auf seine Innenwelt einlassen, mit ihm ein Stück Selbsterkundung betreiben,
kann sehr beglückend sein. Für Therapeut und Klient!
Eine letzte Größe fügte
Rogers seiner Arbeit hinzu als er schon über 80 war: Die Präsenz. Er befand,
dass sie neben Empathie, Akzeptanz und Authentizität unverzichtbar sei. Bei
Präsenz, so erläuterte Rogers, ist immer göttliche Präsenz gemeint. Wenn sich
Therapeut und Klient in dieser absichtslosen Begegnung auf einander einlassen,
entsteht etwas Größeres. Etwas, das die beiden umfasst und sie in das
universelle Bewusstsein eintauchen lässt.
Dann bleibt die Zeit für
einen Augenblick stehen. Ein Augenblick durch den die Ewigkeit hereinschaut: „The Gap.“
Rajan Roth Dezember 2017
https://institut-transpersonale-gestalttherapie.de/Buch.html
https://institut-transpersonale-gestalttherapie.de/Buch.html
Habe mehrfach sehr tief geseufzt bei der Lektüre. Total wunderbar beschrieben. DANKE!
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