Viele meiner
Klienten kommen erst in die Praxis, nachdem etwas Einschneidendes in ihrem
Leben geschehen ist. Unfall, Todesfall, der Partner hat sich getrennt, die
Arbeitsstelle wurde überraschend gekündigt. Das Ereignis selbst ist schlimm und
kaum auszuhalten, aber was dann hinterherkommt ist oft noch viel schlimmer: Die
Einsicht, dass sie sich getäuscht haben, dass sie einer Illusion aufgesessen
sind.
Frank hatte
all die Jahre geglaubt, er habe eine Anstellung auf Lebenszeit. Erst durch die
Kündigung wurde ihm überhaupt klar, dass er die Überzeugung, „mein Arbeitsplatz
ist sicher“, in sich getragen hatte. Jetzt hatte er keine Arbeit mehr und es
wühlte in ihm der Ärger. Er warf sich selbst vor, naiv gewesen zu sein. „Wie
blöd muss man sein, in diesem System irgendjemandem zu vertrauen?“ Jetzt ging
es in seinem Kopf herum wie ein Mühlrad: Was hätte ich anders machen sollen,
was hätte ich früher erkennen müssen etc. Das Karussell der Gefühle stand auch
nicht mehr still. Wut, Hass, Trauer, Verzweiflung und Selbstmitleid lösten
einander ab.
Es war fünf
Jahre her, dass der Lebenspartner von Lisbeth an Krebs gestorben war. Solange
es ihnen beiden gut gegangen war, hatte sie sich nicht mal im Traum vorstellen
können, ihren Partner jemals zu verlieren. Jetzt war der Verlust für sie kaum
zu ertragen. Aber, am meisten machte ihr zu schaffen, dass ihr Welt- und
Selbstbild in seinen Grundfesten erschüttert worden war. Fragen, die sie solange
vermieden hatte, konnte sie nun nicht mehr wegdrücken. Die Sinnfrage schob sich
mit aller Macht nach vorne: Wozu machen wir das alles hier? Was bleibt, wenn
wir sterben? Gibt es irgendwelche Gewissheiten?
Das
einschneidende Erlebnis wird oft als furchtbar, als ungerecht, nicht selten als
Strafe empfunden. Doch selbst die Empörung, die wichtig ist auf dem Weg
zur Verarbeitung der Situation, lässt
häufig monatelang auf sich warten. Die erste Zeit nach dem tiefgreifenden
Geschehen bezeichnen die Klienten später
als eine Zeit der Stumpfheut, der Vernebelung. Sie erlebten sich wie in Watte
gepackt, stumpf und abgeschaltet.
Durchaus weit verbreitet ist die Reaktion: Ich glaub` es nicht! Das ist
nicht nur so dahin gesagt. Sie können es wirklich nicht glauben, sie lassen gar
nicht an sich heran, was geschehen ist.
Nach 22 Jahren
hatte sich Arnaults Freundin von ihm getrennt.
Er kam erst neun Monate später zum Gespräch in meine Praxis. Es stellte
sich heraus, dass er seine Beziehung im gesamten Freundeskreis und in der Familie beharrlich
mit den Worten dargestellt hatte: Wir haben gerade eine längere Pause. Ich
konnte beobachten, wie er sich in den Gesprächen mit mir erst langsam an die
neue Wirklichkeit herantraute. Dann erst kamen auch die Emotionen. Zuvor, so
konnte er selbst sehen, war er wie in eine Starre gegangen.
Sitzungen, die
mit den Worten beginnen: „Vor einem dreiviertel Jahr hat sich meine Frau völlig
unerwartet von mir getrennt“, lassen mich aufhorchen. Oder der Satz heißt: „Ich
bin nun schon seit einem halben Jahr arbeitslos“, dann weiß ich, das Erlebte
hat meinen Klienten so hart getroffen, dass er Monate gebraucht hat, um den
Schicksalsschlag als solchen zuzulassen,
ihn in sein bewusstes Denken hereinzunehmen. Danach vergeht in der Regel noch
einmal viel Zeit bis unsere Klienten dem Schicksalsschlag etwas Positives
abgewinnen können.
Es braucht
eine Zeit des Verdauens und der Integration. Erst dann kann sich langsam die
Sichtweise ändern: „Ohne diesen Hammer hätte ich mich niemals in Bewegung
gesetzt, wäre nie dahin gekommen wo ich heute bin, in einem Leben das mich so
viel reicher und zufriedener macht“.
Folgenreiche
Erlebnisse sind vermutlich häufiger von der harten Sorte. Ich habe allerdings
auch Klienten erlebt, die durch eine überdurchschnittlich positive Begegnung
aus dem eingefahrenen Gleis gesprungen sind. Die große Liebe, zum Beispiel, für
die sie bereit waren, ihre Familie, ihr Land, ihre Arbeit zu verlassen. Oder
die Begegnung mit einem Lehrer oder Meister, dem sie sich von jetzt an
anvertrauten und durch den sie eine völlig neue Sicht auf die Dinge fanden.
Ein vierundzwanzig-jähriger Student, der sein
Studium in Tübingen abgebrochen hatte, berichtete mir etwa acht Monate nachdem
es geschehen war, Folgendes: „Ich hatte bis um zwei Uhr morgens über den
Büchern gesessen. Als ich mich schließlich hinlegte, konnte ich keinen Schlaf
finden. Irgendwie war ich zu sehr aufgedreht. Ich hatte das Gefühl, ich müsste
mich nach so vielen Stunden am Schreibtisch mal bewegen. Also ging ich vor die
Tür und ohne mich dafür extra zu entscheiden, nahm ich den Weg zum Schlossberg.
Ich hatte angenommen, der Aufstieg würde mich ausreichend ermüden und am
Schloss würde ich umkehren und zurück in mein Zimmer und ins Bett gehen. Aber
die Nacht war hell, die Luft angenehm frisch. Es war Juni und so ging ich den
Uhlandweg, den ich bei Tag oft gegangen war, weiter Richtung Rottenburg. Wie ich nach ungefähr zwei Stunden den Berg
zur Wurmlinger Kapelle erstiegen hatte, wurde es grade hell. Da stand ich,
leicht übernächtigt, und schaute sprachlos über das weite Neckartal, das unter
mir noch in die letzten Reste der Nacht eingehüllt war. Drüben über der
Schwäbischen Alb begann die Luft zu glühen und dann fingerten die ersten
Sonnenstrahlen zu mir herüber und auf einmal wusste ich, wie alles funktioniert.
Es war, als ob ich es regelrecht vor mir sehen konnte, wie alles mit allem verbunden
ist.
Wie alles seinen Platz hat, ganz ohne unser Zutun. Wie du nicht aus der
Schöpfung herausfallen kannst und wie du nie von ihr getrennt, sondern schon
immer eins und unzertrennlich mit ihr verbunden warst. Das war, als wenn dir
endlich nach Jahren jemand den Rollladen hochzieht und das gleißende Licht
flutet auf einmal dein Zimmer. Es war, als klappte mir jemand das Schädeldach
auf um eine goldene Flüssigkeit in mich einzufüllen, die mir dann wie Sekt durch
die Adern rann. Es war eine gesamtkörperliche Erfahrung und auf keinen Fall ein
intellektueller Ausflug.“
Danach hörten
sich die Ausführungen der Philosophieprofessoren so dürftig an, dass er mitten
in der Vorlesung aufstand, seine Sachen zusammenpackte, den Raum und die Uni
mit der Überzeugung verließ, hierher nie wieder zurückzukehren. Er wollte
reisen, sein Geld mit Gelegenheitsarbeiten verdienen und sein Glück suchen. „Auf
der Suche nach dem Wunderbaren“, das war ein Satz, den er irgendwo gelesen
hatte und der ihn von da an nicht mehr los ließ.
Besonders
bemerkenswert finde ich, dass aus Fällen von großem Unglück ebenso wie von
großem Glück das Bedürfnis erwächst, über das Erlebte zu reden. Die Menschen
sind so voll davon, dass sie es teilen müssen. Oft scheint mir, wenn ich meinen
Klienten bei ihren bewegenden Erzählungen zuhöre, dass sie Selbstgespräche
führen. Sie müssen es noch einmal erleben, es in Worte fassen – obwohl sie
immer wieder sagen, ich kann es gar nicht beschreiben.
Nicht selten stoßen
sie dabei auf die Fragen: Wie kam es zu diesem Erlebnis? Wieso gerade mir?
Wieso gerade jetzt? Ich selbst habe dazu das Bild vom inneren Kompass. Wenn wir
ihn nur lassen, nordet er uns immer wieder ein. Das Ereignis widerfährt gerade
uns, weil wir es sind, die den Kurs verloren haben und es passiert gerade
jetzt, weil es höchste Zeit war. Alles in uns drängt danach, der zu werden, der
wir sind. Damit folge ich der Überzeugung von Carl Rogers. Für ihn ist
menschliches Leben ein Wachstumsprozess. Wir entfalten uns gemäß der
Bestimmung, die in uns liegt. So wie aus einer Haselnuss kein Eichbaum wächst
und aus einer Eichel kein Haselstrauch, so irren sich auch die Milliarden
anderer Samen, die täglich auf die Erde
fallen niemals und werden genau zu dem, was in ihnen angelegt ist.
Aus einem
Liliensamen wird eine Lilie, die eine grösser, die andere kleiner, aber sie
wird genau das entfalten was sie „kann“. Sie muss blühen und wenn sie dann
welkt und vergeht, hat sie ihre Bestimmung erfüllt. So einfach ist das und
dabei gibt es keinerlei Beliebigkeit.
Dem Keimling geht es dann gut, wenn er
dem Bauplan folgt, den er mitgebracht hat. Er wird zu der ihm möglichen Größe
heranwachsen, Blüten und Frucht ausbilden und den Kreislauf aufrechterhalten,
wenn er seine Samen zurücklässt, ehe er vergeht.
Bei uns
Menschen ist es nicht anders. Wenn wir
mit uns selbst im Einklang stehen, fühlen wir uns zufrieden, rund, ganz. Wenn
wir das tun, was wir hier in der Welt zu tun haben, dann fühlt es sich stimmig
an. Der innere Kompass wacht über den Kurs. Wenn wir auf ihn achten, können wir
die nötigen Kurskorrekturen vornehmen. Missachten wir ihn, macht sich der
Kompass bemerkbar: Vielleicht Magendrücken, Kopfweh, Gelenkprobleme. Wenn das
nicht reicht, Beinbruch oder Gallenoperation – auf die harte Tour. Oder, er
klappt den Schädel auf und füllt den Sekt der Weisheit ein. Auch das ist meist
erst der Anfang und wird oft ebenso dramatisch erlebt wie die Botschaft über
Symptome.
Früher nannte
man die innere Instanz Seele. Sie holte dich wieder zurück, wenn du dich zu
weit von dir selbst entfernt hattest. Manchmal muss die Seele schreien, wenn du
völlig vergessen hast, auf sie zu hören. In Ihrer Verzweiflung greift sie dann
zu Lautstärken, die du nicht mehr überhören kannst. Sie geht auf die physische
Ebene, sie klemmt dir die Hand ein, verstaucht dir den Fuß, bremst dich aus,
wirft dich aufs Krankenbett, damit du nicht mehr pausenlos weiterrennen kannst.
Sie bringt dich zur Ruhe und zwingt dich zuzuhören.
Da beginnt,
was meist erst Monate später in der Praxis weitergeht. Im Krankenhaus hat das
Nachdenken begonnen, aber Nachdenken, das haben sie alle gezwungenermaßen
herausgefunden, ist fruchtlos, wenn es
um die Führung des eigenen Lebens geht. Was die Gedanken speist und erfrischt,
das kommt nicht aus dem Kopf, es kommt aus dem Zusammenspiel aller unserer
Zellen. Vereinfacht sagen wir gerne: kommt aus dem Bauch. Aber so viele haben
verlernt, die inneren Töne, die eigene innere Stimme zu hören, ohne die das
Grübeln fruchtlos eher kontraproduktiv wird.
Um wieder an
jenen Punkt zurückzukommen, an dem wir auf die Zwischentöne hören, braucht es
den Zuhörer, der dem Erzähler zurückmeldet, zurückspiegelt, was er gerade
gehört hat. Der hilfreiche Zuhörer gibt nicht nur die Wege des Denkens wieder,
sondern ein Gesamtbild aus Gefühlen, Körperreaktionen, versteckten Wünschen und
alten Glaubenssätzen. In dem Moment, in dem dir jemand von außen das Reden
deiner eigenen Stimme wiedergibt, ohne missionarische Absicht, so sauber
gespiegelt wie möglich, in diesem Augenblick dämmert dir, dass du gerade dem
Reden deiner Seele zuhörst.
Der Zuhörer,
der noch einmal wiedergibt, was du gerade eben gesagt hast – das ist der
Psychotherapeut. Diesen Selbstgesprächen zuzuhören, das macht den größten Teil
unserer therapeutischen Arbeit aus.
Rajan Roth 3.3.2019
So wahr und berührend und treffend beschrieben. Finde mich wieder. Als Klient wie auch als Therapeutin. Ganz liebe Grüße, Maria
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