Manches Mal habe ich den Verdacht, dass wir
mit unserem unentwegten, allumfassenden Verständnis bei unseren Klienten das
Ende der Therapie unnötig hinauszögern oder,
in Fällen, sogar das Gegenteil dessen bewirken, was
wir dem Klienten wünschen. Anstatt ein selbstbestimmtes, bewusstes Leben zu
fördern, verlängern wir, ohne es zu wollen, die Zeit der Abhängigkeit und
Unselbständigkeit.
Ja, natürlich, wir hämmern es unseren
zukünftigen Therapeuten ein: Was du brauchst, ist erstens die Haltung und zweitens
die Haltung und drittens die Haltung. Unsere Schüler und die Kollegen in der
Supervision hören das. Sie verstehen: Du musst zugewandt
sein, zuhören und auf den Klienten eingehen und sie handeln danach. Doch
unversehens wird eine Masche daraus.. Das Mäntelchen des
Verständnisvollen wird angelegt. Sie bemühen sich Achtung und Wertschätzung zu
zeigen, aber einfühlsames Zuhören und Wertschätzen scheinen bereits alle
Aufmerksamkeit zu absorbieren und darüber fällt die dritte Größe, die
Authentizität, hinten runter. Kein Kollege
kann mir erzählen, dass er nicht in der zwölften oder achtzehnten Stunde kurz
einmal dachte: „Weißt du was, langsam ist es Zeit, werd` einfach erwachsen.“
Aber wir sagen es nicht, haben unsere eigenen guten oder fadenscheinigen Gründe
und unser Klient gleitet leise zurück in seine Opferrolle.
In einer Sitzung berichtet Alwina, wie schwer sie es zurzeit mit ihrem Mann hat. „Was ist los?“ „Wir streiten so viel.“ Im Laufe des Gesprächs stellt sich heraus, sie
wünscht sich einen Mann, der mehr für sie da ist, ihr zuhört, sie versteht.
„Sag´ ihm das, jetzt. Setz´ ihn auf den leeren Stuhl.“ Kaum stellt sie sich
vor, da drüben sitzt mein Mann, rutscht sie in sich zusammen, das Wasser tritt
ihr in die Augen, sie will gar nicht zu ihm hinschauen. Was sie mir eben noch
klar und zusammenhängend sagen konnte,
gelingt ihr nicht mehr. Ihre Stimme wird dünn: “Ich weiß ja, dass du
soviel arbeiten musst. Ich fühl´ mich halt
dann oft überfordert mit den Kindern und dem Haushalt und der Arbeit.“ Noch vor
fünf Minuten konnte sie mir sagen, was sie von ihrem Mann möchte. Jetzt scheint
sie es vergessen zu haben. Wie ausgeblendet.
Da war sie das Opfer. Man kann ja nichts
tun. Die Erwachsenenwelt ist übermächtig. Ich muss ganz still sein. Wenn ich widerspreche,
wenn ich mich zeige, schlägt er mich tot. „Wie alt fühlst du dich gerade
jetzt?“ „Vier…oder fünf“ kommt es mit dünner Stimme zurück. „Aha, du bist vier
Jahre alt, was ist los in deinem Leben?“ Die Szene wird wach, in der der betrunkene Vater brüllt und auf die
Mutter einschlägt. Alwina hat sich unter die Eckbank gekauert, hält ganz still
und wartet bis der Sturm vorüber ist. Sie befürchtet, die Mutter wird gehen
oder der Vater wird gehen und dann ist alles aus. Sie hält den Atem an, Die
Angst macht sie ganz steif. Heute ist sie 42. Ihr Mann brüllt nicht, schlägt
nicht, aber, wie ich höre, zieht er sich zurück,
je mehr sie sich an ihn klammert. Dann fühlt sie sich unverstanden und
verlassen. Ein Teufelskreis.
Ja, es
gibt Wege aus der Krise. Allerdings
nur, wenn es dem Therapeuten gelingt über all den traurigen und
dramatischen Ereignissen nicht zu vergessen, dass die Klientin vor allen Dingen
wieder in Bewegung kommen muss. Genau an dieser Stelle wird es therapeutisch
interessant. Jetzt
steht für Alwina an, die Komfortzone zu verlassen. Es klingt seltsam, eine
erschütternde Kindheit als Komfortzone zu bezeichnen. Tatsächlich ist es nicht
die deformierende Kindheit, sondern das
Überlebenskonzept, das Alwina sich zugelegt hat. Die Opferhaltung selbst ist
die Komfortzone. Da weiß sie, wie es geht. Es mag vieles da draußen geben, was
besser ist, aber das Risiko, es
auszuprobieren, scheint viel zu hoch. Etwas in ihr sagt: Bleib unter der Bank,
wenn du da rausgehst, schlägt er dich tot.
Traumabehandlung mit den Mitteln der
Gestalttherapie ist kein leichtes Geschäft, aber, es ist möglich. Wir haben es
in zahllosen Fällen erlebt. An anderer Stelle will ich gerne dazu einige Überlegungen
aufschreiben. Hier reden wir weder von der Inneren-Kind-Arbeit noch von den
Details der Traumatherapie. Wir sprechen von einer Verstrickung
zwischen Therapeut und Klient, die selbst bei guter handwerklicher Arbeit im
Hintergrund ablaufen kann. Die geht etwa so:
Unserem Klienten, unserer Klientin geht es
schlecht. Sie erzählt traurige, dramatische, bewegende Erlebnisse und sie
bekommt unsere volle Aufmerksamkeit. Zehn oder zwanzig Sitzungen später ist sie
entschlossen, ihre neuen Einsichten und
Veränderungen in ihr Leben zu integrieren und ohne Therapeut weiterzugehen. Da
sie nun keine Therapiestunden mehr hat, gibt es auch keine Extrazuwendung mehr,
eine Situation die der folgenden häuslichen Szene so nahe steht: Die Mutter wendet sich ihrem Kind vor allem oder
vielleicht sogar nur dann liebevoll zu, wenn es krank ist. In diesem Fall wird
Krankheit belohnt. Die unbeabsichtigte Lektion sitzt: Ich muss öfter mal krank sein,
damit Mama mir zeigt, dass sie mich lieb hat. Dieses Verhalten, in der Kindheit
erprobt und reichlich belohnt, legen wir auch später nicht ab Wir spielen es mit unseren Kollegen, Freunden
und Lebenspartnern immer wieder durch und, nicht verwunderlich, mit unseren
Therapeuten tun wir genau dasselbe! Wir haben kein neues Verhaltensmuster
parat, nur weil wir vor einem Therapeuten sitzen.
Der Therapeut versteht sich als in sich
ruhend, verständnisvoll und absichtslos. Er versucht, bedingungslose Liebe vorzuleben. Nichts
wollen, nicht einmischen, keine Manipulation. Ich nehme dich an, so wie du bist. Warum sollte ein Klient in dem
sozialen Umfeld seines Alltags das Risiko eingehen, dass er für sein kindliches
Verhalten abgelehnt wird, wo es doch in der
Therapiestube eine urchristliche oder urbuddhistische Liebende Güte gibt? Der
Klient bekommt also in der Therapie was er sich so sehr wünscht, das Angenommensein
– man kann sagen: Umsonst.
Und der Therapeut? Auch er fühlt sich
bestätigt, weil gebraucht. So haben beide kein Motiv, die Therapie zu beenden.
Stillschweigend signalisieren wir: Armes Opfer, was hat die Welt dir Unerhörtes
angetan. Der Klient fühlt sich in seiner Empörung bestätigt und füttert damit
weiter den Underdog – wie Fritz Perls den inneren Mehlsack nennt, den
Boykotteur, der weinerlich sagt: Ich hatte die besten Absichten, aber leider
ist es mir wieder nicht gelungen pünktlich zu sein.
Ja, ich winde mich bei diesem Thema, weil ich auf keinen Fall predigen möchte:
Achtung vor zu viel Empathie. Nein! Was ich sagen will und was ich mir selbst
immer wieder sage: Nähre nicht die Opferhaltung deines Klienten. Das ist nicht
Nahrung für ihn, das ist Gift!
Immer wieder in Tränen zerfließen, immer
wieder Mama rufen, immer wieder Trost
erbetteln oder notfalls erpressen… Wie kann es mir in der Praxis gelingen die
Empathie nicht zu schmälern oder zu verlieren und doch nicht der alles
verstehende, alles verzeihende, immer wieder
liebende Zuwendung schenkende Übervater zu sein, der durch diese Haltung Wachstum
verhindert, anstatt zu fördern?
Es geht nicht darum, die Empathie zu
schmälern, sondern darum, sie nicht über die Bewusstheit wachsen zu lassen. Sie
darf die Bewusstheit nicht überwuchern. Wenn mir bewusst wird, dass mein Klient
mit mir umgeht, wie er es immer tut, dass er nämlich in die Opferrolle geht,
darf mir das nicht mehr wegrutschen. Jetzt ist meine Kreativität gefragt, jetzt
kann es auch für den Therapeuten unbequem werden. Es muss ihm irgendwie
gelingen, dem Klienten seine Opferhaltung erfahrbar zu machen. Am Ende geht es
darum, bewusst zu machen, dass die Opferrolle ein Gefängnis ist. Ja, selbst das
schlimmste Gefängnis hat etwas von Schutz- und Schonraum. Die Freiheit aber, ist ein Gewächs, das nur
außerhalb der Mauern des Kerkers gedeiht!
Die Opferhaltung ist fast immer eine
kindliche Haltung. Das Kind ist der Willkür der Eltern ausgeliefert, hundert
Prozent abhängig. Weggehen ist keine Option, wo soll das Kind denn hin? Um zu
überleben, muss es bleiben und es erträgt
und erduldet. Dabei erwirbt es eine Strategie mit der misslichen Situation
umzugehen. Niemand zuhause wird ihm später verständlich machen, dass neue
Situationen neues Verhalten möglich machen. Für die überwiegende Mehrheit ist
klar: Ich habe mir ein Verhalten zugelegt, das funktioniert, weshalb sollte ich
es aufgeben?
Die meisten Klienten betreten die Praxis
als Erwachsene. Sobald jedoch die gegenwärtige Überforderung zur Sprache kommt, kollabieren
sie. Genau wie Alwina. Im einen Augenblick
saß sie noch erwachsen vor mir, im nächsten Moment überschwemmte sie die unlösbare Aufgabe. Sie sprang zurück in die
Kindheit – oder die Kindheit sprang sie an. Damals brauchte sie für ihr
Wachstum eine ausgeglichene Atmosphäre und so hatte sich zur Aufgabe gemacht,
in der Familie für Harmonie zu sorgen.
Eine Anforderung, der sie nicht gerecht werden konnte. Immer wieder fühlte sie
sich ohnmächtig und der Satz nistete sich bei ihr ein: Ich schaff es nicht.
Heute, konfrontiert mit ihrem Mann, verlor sie augenblicklich wieder alle
Kraft, wieder erlebte sie die Ohnmacht. Sie konnte nicht handeln, konnte und
kann also auch keine Verantwortung übernehmen.
Von da bis zur Übernahme von
Eigenverantwortung für ihre Handlungen, Gedanken und Gefühle legte Alwina einen
langen Weg zurück. Zwischendurch recht unbequem. Für beide, Klientin und
Therapeut. Er bekommt den Widerstand, die Ablehnung, den Ärger ab, wenn er ihr
sagt: „Sag deinem Mann was du von ihm möchtest.“ Und sie entgegnet. „Ich kann
nicht“ und du sagst: „Kann nicht gibt’s nicht. Willst du oder willst du nicht?“
Dann verflucht sie dich: „Du warst doch
bisher so ein lieber Onkel“; und sie denkt, du verrätst sie genauso wie
ihr Vater. Du hörst auf, der liebe Onkel zu sein (weil dir etwas an ihr liegt)
und sie hört auf das schüchterne Mädchen zu sein und da beginnt Wachstum.
Also: Opferhaltung nicht aus den Augen
verlieren, selbst wenn es unbequem werden kann!
Rajan Roth
Mai 2019
Hallo,
AntwortenLöschenDas ist ein Thema, das ich sehr wichtig finde und was wohl oft nicht so gut läuft. Es ist bestimmt ein Grund, warum für viele Menschen Psychotherapie immer noch mit einem Stigma belegt es: Sie assoziieren sie nicht mit Selbstermächtigung, sondern mit einer Stärkung der eigenen Opferidentität.
Meiner Überzeugung nach haben alle Menschen einen feinen Sinn für Wahrhaftigkeit und selbst, wenn seine Opferidentität die Komfortzone einen Menschen ist, wird dieser Sinn eine gewisse Aversion gegen verstärkende Situationen dieser Identität haben.
Dennoch: Ich halte die vorgestellte Lösung für Alwina nicht für optimal. Der Anteil in Ihr, der sich mit der Opferrolle identifiziert, hat keinen Ausweg daraus. Die Aufforderung „Sag deinem Mann was du von ihm möchtest.“ kann tatsächlich als Verrat verstanden werden, denn in den Situationen, in denen diese Identität, diese Struktur entstanden ist, gab es diese Lösung nicht. Da wäre es die Aufgabe eines Erwachsenen gewesen, sie aus der Opferrolle zu befreien.
Und eben diese Erwachsene kann sie sich heute eben selbst sein. Aber nicht, wenn sie in der besagten Identität steckt.
In einer Sitzung kann ein Therapeut sie nun dabei begleiten zwischen Ihrem Opfererleben und dem Hier und Jetzt zu pendeln, in dem sie sich als erwachsene Frau erlebt. Dabei muss vor allem letzteres gut verankert sein. Wenn sie lernt, sich als Erwachsene der Struktur zuzuwenden, die ausweglos Opfer ist, kann das an sich schon der Ausweg sein. Dann entsteht die Möglichkeit auf jetzige Probleme mit Verhalten zu reagieren, das jetzt angemessen ist.