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Auszüge aus meinem Buch "Transpersonale Gestalttherapie"

 Lest unten eine Probe aus meinem neuen Buch "Transpersonale Gestalttherapie"

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  Der Gestaltbegriff

Erst wenn es ganz ist, hat es Gestalt angenommen.

Stell dir vor, du ziehst mit deiner Horde von ca. 30 Menschen durch das steinzeitliche Europa, vor rund 25000 Jahren. Der Herbst zieht in die Kölner Bucht, ihr könnt riechen, dass der Winter naht. Ihr habt die letzten Früchte von den Bäumen gegessen und ihr wisst, so gut wie die Zugvögel, dass es wieder wärmer wird, wenn ihr nach Süden zieht. Ihr verlasst also euren sommerlichen Lagerplatz und wendet euch flussaufwärts, Richtung Bodensee.

Ehe der Rhein nach Osten zum See hin abknickt, verlasst ihr den Fluss und durchquert die Gegend, die wir heute Burgundische Pforte nennen. Ihr erreicht die Rhone und folgt ihr bis zum Mündungsdelta. Ihr wollt ans Mittelmeer. Hier gibt es Schnecken, Muscheln und Krebse, Beeren und Wurzeln und vor allem laue Nächte. In fünf Monaten werdet ihr wieder die Rhone hinauf und den Rhein hinunter wandern um den Sommer wieder in der Gegend des heutigen Köln zu verbringen. Manchmal bleibt ihr für Wochen an demselben Platz, manchmal ist der Schlafplatz jeden Abend woanders.

Wenn ihr so durch die Auenwälder der Flusstäler streift, seid ihr noch Teil der Natur. Zwischen dir und deiner Horde gibt es keinen Unterschied, keine Trennung. Was der Horde geschieht, geschieht dir, was du erlebst, erlebt die Horde. Auch die Horde selbst ist nicht getrennt von den anderen Geschöpfen, die in der Aue leben, seien es Pflanzen oder Tiere. Ohne jede Anstrengung, ohne jede Besinnung darauf, dass du es tun müsstest, bist du unablässig im Kontakt mit dir und deiner Sippe, mit den jungen Blattspitzen der Bäume und Sträucher, mit den stark duftenden Wiesenkräutern, mit den Früchten, und mit den Eidechsen, mit den Fröschen in den Tümpeln und den Enten in den Brackwasserarmen.

Du weißt, ohne nachdenken zu müssen, was um dich herum vorgeht und wenn sich plötzlich die Härchen auf deinen Unterarmen aufstellen und sich deine Nackenhaare sträuben, dann überlegst du nicht lange, dann bringst du dich in Sicherheit und dein Verhalten ist nicht trennbar von der Bewegung der Horde, die sich zeitgleich mit dir in Sicherheit bringt. Keine Zeit für WG-Meetings.

Deine Wohn- und Lebensgemeinschaft hat sich schon zur Abwehr formiert, hat alles getan, um die Angriffsfläche so klein wie möglich zu gestalten, sorgt in Bruchteilen von Sekunden für Schutz und Überleben der Gruppe. Ihr seid Teil der Natur, fließt mit dem Jahreswechsel, mit den Mondzyklen, mit dem Auf- und Untergang der Sonne, mit dem Wechsel des Lichts vom Morgen bis zum Abend. Eins mit den Geräuschen des Waldes, bewegt ihr euch lautlos und ausdauernd über den federnden Boden und bezieht selbst aus der Berührung eurer Füße mit der Erde ständig Nachrichten, die wichtige Botschaften enthalten.

In diesem Leben sind alle Sinne im höchsten Maße aufgespannt. Die Haut, die Augen, die Ohren, die Nase, der Mund, die Hände sind unablässig Empfänger von Eindrücken, ein pausenloses Fest der Sinne und zugleich die Grundlage fürs Überleben. Wir wechselten nicht vom Gesichts- zum Geruchssinn, weil wir dachten, wir müssen jetzt mal schnuppern. Vielmehr geschah uns der Duft des blühenden Baumes und das Geräusch des Flügelschlags, wenn das Blesshuhn vom Wasser abhob. Da ist nicht die Blüte da draußen und meine Wahrnehmung da drinnen – ich bin der blühende Baum, das flüchtende Blesshuhn, die schnelle Eidechse und der raffinierte Waschbär. Es gab keinen Unterschied. Die lebenserhaltende Wahrnehmung war immer ganzheitlich. Sehen und genießen, sehen und vom Baum pflücken, sehen und sich im gleichen Augenblick in Sicherheit bringen, das war nie getrennt. Wäre es getrennt gewesen, wäre kostbare Zeit verstrichen und das Leben wäre längst erloschen.

Wir nahmen die Welt wahr als Ganzes, und - wenn es schnell gehen muss - machen wir das heute noch so. Nur weil wir uns in den letzten paar Jahrtausenden, ja vielleicht nur in den letzten paar Jahrhunderten, allmählich der Natur entfremdet haben, mussten wir am Ende dieser Entwicklung schließlich Sensitivity-Groups gründen, damit wir wenigstens wieder ab und zu bei Sinnen sind.

  Wahrnehmung

Heute erscheint uns das Wahrgenommene und der Wahrnehmende getrennt. Scheint uns, was wir innen wahrnehmen und was draußen geschieht ein Prozess mit zeitlicher Abfolge zu sein. Tatsächlich läuft, was draußen geschieht und was drinnen wahrgenommen wird, immer synchron ab. Wir können uns den Vorgang der Wahrnehmung nur als zeitlichen Ablauf vorstellen. Tatsächlich sind Sehen und Geschehen ein und dasselbe – immer ein ganzheitlicher Vorgang.

Das selbstverständliche Leben mit allen Sinnen ist nun zum Forschungsgegenstand geworden und muss uns über einen Riesenumweg wieder nahegebracht werden. Gestaltpsychologen haben sich dieser Aufgabe angenommen. Sie fanden heraus, dass optische Reize uns nur so lange bedrohen, bis sie Gestalt annehmen. Erst wenn sich die Lichtreize so organisiert haben, dass wir eine Form erkennen können, entspannen wir. Gelingt es uns nicht, das Geschaute zu deuten und zu benennen, bleibt eine Unsicherheit, eine mehr oder weniger große Bedrohung. Im Augenwinkel nehme ich eine Bewegung wahr – Schrecksekunde – mein Kopf fährt herum, jetzt erkenne ich, dass ein Vogel aus dem Gebüsch fliegt. Sofort ging mein Körper in Abwehrbereitschaft. Sobald ich weiß, was es ist, und das weiß ich, weil mein System den optischen Reiz entzifferte, kann ich wieder loslassen. Erkannt habe ich das Phänomen, weil sich die Lichtpunkte zu etwas Ganzem, zu einer Gestalt zusammengeschlossen haben. Dies ist ein Prozess der täglich millionenfach passiert und der sich so rasend schnell vollzieht, dass wir es gar nicht bemerken. Erst durch psychologische Tests mit eigens dafür entwickelten Testgeräten konnte diese Fähigkeit unseres Organismus` aufgezeigt werden.

Sehen und deuten, sehen und erkennen ist ein und dasselbe. Sehen ist erkennen. Wenn wir es nicht erkennen, sehen wir es nicht. Es verhält sich also nicht so, dass wir ein Geschöpf sehen, dann deuten, dann wissen, es ist bedrohlich oder ungefährlich. Tatsächlich, so sagten Wissenschaftler bereits vor über hundert Jahren, können wir die Erscheinung erst sehen, wenn sie Gestalt angenommen hat. Muss der Vorgang der Deutung schnell gehen, so wählt unser Erkennungssystem immer eine uns schon bekannte Form, und, wie oben beschrieben, musste es in der Frühzeit der Menschheit immer schnell gehen. Wenn wir durch die Steppe zogen und sich im Augenwinkel etwas Getigertes zeigte, hatten wir nicht Zeit, die Zeichen intellektuell zu deuten. Eine rasante Nervenverschaltung, die sich unterhalb des Denkens vollzog, hatte bereits über Flucht, Kampf oder Erstarren entschieden. Dinge wahrnehmen, sie im selben Augenblick deuten und richtig handeln, waren zentrale Bausteine unseres Überlebens.

Der Gestaltpsychologe Max Wertheimer konnte unsere reflexartige Reaktion auf unfertige Bilder mit einem Experiment zeigen: Versuchspersonen bekamen Bilder zu sehen, die nur für Bruchteile von Sekunden auf eine Leinwand projiziert wurden. Der Unterschied zwischen dem, was Menschen heutzutage sehen, wenn sie Zeit haben und dem, was sie sehen, wenn es schnell gehen muss, ist enorm. So zeigte das Testbild einen nicht komplett geschlossenen Ring. Alle Versuchspersonen waren sich sicher: Ich sehe einen Kreis. Der kleine Fehler wurde ignoriert, weil keine Zeit für Details war. Ein anderes Bild zeigte einen Sack mit Holzscheiten, der oben zugebunden war. Bei einer Belichtung von Millisekunden lautete die Deutung bei nahezu allen Beobachtern: Birne. Etwas, das unten breit und rund ist, sich nach oben verjüngt und dort einen Pinsel hat, das muss eine Birne sein.

Wir wollen, wir müssen das Geschaute ergänzen, also ganz machen. Die Gestalt muss geschlossen werden.

Die Ergebnisse der Wahrnehmungspsychologie übertrug Fritz Perls auf alle Bereiche der menschlichen Psyche. Jedes Ereignis hinterlässt, seiner Meinung nach, eine Spur in uns, so etwas wie einen Fußabdruck. Ist das so entstandene innere Bild vollständig, kann es in die Ablage gehen. Es wird keine weitere Aufmerksamkeit mehr binden. Ist das Bild aber unvollständig, so gelangt es nur in die Zwischenablage und wird von dort immer wieder die Aufforderung senden: Komplettiere mich, ich bin noch nicht fertig.

  Gestalten schließen in der therapeutischen Praxis

Annette lernte im Februar, sagen wir zur Karnevalszeit, einen attraktiven Mann kennen. Es gab Verabredungen, gemeinsame Kino- und Restaurantbesuche und im Mai waren sie ein Paar. Im September verbrachten sie ihren ersten gemeinsamen Urlaub. Zwei Wochen Mallorca, Cala San Vicente. Besser konnte es nicht sein. Am letzten Abend wollte er gleich nach dem Essen ins Bett gehen. Sie aber hatte die Idee, zum Abschied noch einmal in der Bucht spazieren zu gehen. Es gab einen Wortwechsel, Jürgen machte ein langes Gesicht, der Spaziergang fand statt, die gute Stimmung allerdings war dahin. Später am Abend schliefen sie zwar Arm in Arm ein, etwas Ungutes blieb jedoch hängen.

Annette kam Ende November zu mir in die Praxis. Ihr Jürgen hatte seit dem Ende des Urlaubs jeden Kontakt zu ihr abgebrochen. Er öffnete an der Wohnungstür nicht, beantwortete keinen Anruf, schien wie vom Erdboden verschluckt. Was Annette durch den Kopf ging, kennt jeder: Was ist passiert? Ist er krank? Braucht er Hilfe? Kann er mich nicht kontaktieren oder will er nicht? Was habe ich getan, dass er mich nicht mehr sehen will? Wenn er das nicht aushält, dass ich einmal anderer Meinung bin, dann können wir es ja gleich lassen. Das steigert sich dann zu: Du Dreckskerl, du hast mich sitzen gelassen, du hast mich benutzt, fahr zur Hölle! Und dann wieder von vorne. Ob er verletzt ist, vielleicht ist etwas Schlimmes passiert etc.? Das Mühlrad steht nicht mehr still.

Jürgen tauchte kurz vor Weihnachten wieder auf. Er hatte den Abstand gebraucht. Alles war ihm zu schnell gegangen und er hatte erst mal herausfinden müssen, ob er zu einer engeren Bindung überhaupt bereit war. Mir ist an diesem Beispiel nur wichtig, zu zeigen, wie drängend eine Geschichte werden kann, wenn sie nicht abgeschlossen, sondern abgebrochen wurde.  Wir müssen die angefangene Geschichte zu Ende bringen, sonst lässt sie uns nicht mehr los.

Die Version der Geschichte, mit der sich unsere Psyche auf Anhieb zufriedengäbe, sieht deutlich anders aus: Annette und Jürgen begegnen sich in der Karnevalszeit, sie werden im Mai ein Paar und verbringen einen großartigen Sommer miteinander. Im September gehen sie gemeinsam nach Mallorca, sie möchten herausfinden, ob sie wirklich füreinander bestimmt sind. Sie bemühen sich um Aufrichtigkeit und obgleich keine gravierenden Zerwürfnisse vorkommen, finden sie heraus, so richtig haut das nicht hin mit uns beiden. Sie kommen einmütig zu dem Schluss, dass sie besser wieder getrennter Wege gehen. Also machen sie sich noch einen letzten schönen Abend und als sie am anderen Tag in Deutschland das Flughafengebäude verlassen, umarmen sich noch einmal: „Danke für die schöne Zeit mit dir.“ Vielleicht äußerlich, aber auf jeden Fall innerlich gibt es eine Verbeugung und dann gehen sie auseinander.

Deshalb wünschen wir uns im Kino ein „happy end“. Wir möchten nicht fremder Leute schwelende Konflikte mit nach Hause nehmen. Wir lassen uns gerne gruselige Geschichten erzählen, aber am Ende muss es einen guten Schluss geben: „Der König ließ die gute Kunde im ganzen Land verbreiten. Am Hof wurde anlässlich der Vermählung ein rauschendes Fest gefeiert, mit tausend Gästen, mit zehntausend Kerzen, mit Braten und Kuchen und Wein, dass sich die Tische bogen. Es wurde getanzt und gelacht bis zum Morgengrauen. Der junge König und seine Gemahlin regierten fortan das Land mit Umsicht und Gerechtigkeit so, dass jeder sein Auskommen hatte und wenn sie nicht gestorben sind, dann leben sie noch heute.“

Am Ende ist alles gut und wenn es nicht gut ist, dann ist es nicht das Ende. Eben, weil noch etwas fehlt. So interessiert mich in der gestalttherapeutischen Arbeit immer das, was noch fehlt. Die Lücke zieht mich magisch an. Wenn eine Klientin ganz offensichtlich von einer alten Geschichte nicht loskommt und zwar hier und jetzt in der Sitzung, dann ist das für mich ein Zeichen dafür, dass die aufgetauchte Begebenheit nicht abgeschlossen ist. Ich frage mich und manchmal auch ganz direkt meine Klientin: Was fehlt noch, um den Vorgang abzuschließen? So wie im Kriminalroman der Täter gefunden wird wenn der Inspektor sich sagt: Folge der Spur des Geldes oder der Eifersucht oder dem Neid. So heißt bei uns die Lösung: Finde heraus was unvollendet geblieben ist und hilf dem Klienten, es zu Ende zu bringen – denn die Gestalt muss geschlossen werden.


https://tredition.de/autoren/rajan-roth-37887/transpersonale-gestalttherapie-paperback-155758/


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