Im weiteren
Verlauf der Sitzung stellte sich heraus: Ergül
war in Deutschland geboren und als sie 3 Monate alt war, brachte die Mutter sie
zu ihren Eltern in die Türkei. Dort wuchs sie bei der Großmutter auf. Sie
fühlte sich geliebt, fühlte sich wichtig, hatte alle Freiheiten. In der
Erinnerung ein paradiesischer Zustand. Nach fünfeinhalb Jahren kamen ihre
Eltern und erklärten dem Kind, es sei jetzt Zeit mit ihnen nach Deutschland zu
kommen. Ergül hat sich bei der Großmutter zu Hause gefühlt, das war ihre
primäre Bezugsperson. Die Mutter, die gekommen war, um sie zu holen, kannte sie
kaum und sie konnte nicht verstehen warum sie jetzt nach Deutschland musste.
Dort
angekommen allerdings, war schnell klar, sie musste herkommen, weil sie jetzt
im Schulalter war. Bald saß sie also hinten in der Klasse, verstand kein Wort
Deutsch und hatte das Gefühl, dass keiner sie haben will. Und dann auch noch
Ergül. Nicht Helga, Karin, Gisela, sondern Ergül. Was nütze es sie, dass es in
der Türkei „einmalige Rose“ bedeutet? Die Kinder machten sich darüber lustig.
Sie konnte es spüren, obwohl sie nicht verstand, was sie sagten. Die Schwere
dieser Situation stand über 30 Jahre später penetrant, dick wie zum Greifen im
Therapieraum. Was für eine Misere. Wir sollten es Einwanderungstrauma nennen,
dachte ich und tatsächlich findet sich dieser Begriff bereits in der Literatur.
Ergül hatte
meine Praxis aufgesucht, weil sie nach Jahren der Doppelbelastung endlich in
die Selbständigkeit gegangen war, sie hatte die Prüfung bestanden hatte einen
Praxisraum angemietet, draußen stand: „Heilpraktiker Psychotherapie“, aber die
Praxis lief nicht. Ob es einen inneren
Boykotteur gibt, war die Frage und die brachte uns zu dem kleinen Mädchen, das
im Hof mit Holzabfällen spielt, bis der Vater endlich Feierabend hat und sie
mit nach Hause nimmt. Endlich jemand der türkisch mit ihr sprechen kann, aber
der Vater spricht nicht viel, er ist erschöpft und will nur seine Ruhe.
Das ist
Ergüls Geschichte und ich erfuhr sie, weil sie meine Klientin war. In den
folgenden Jahren kamen solche Geschichten mehr und mehr ans Licht. Weiter unten werde ich noch einige erzählen.
Ich gewann
den Eindruck, dass wir es hier mit einem Phänomen zu tun haben, das Beachtung
verdient. Ich wollte es zahlenmässig erfassen und fand auf der Seite des Statistischen Bundesamtes folgenden
Eintrag:
27. Juni 2023 Nettozuwanderung
von knapp 1,5 Millionen Personen im Jahr 2022
Im Jahr
2022 wurden rund 1 462 000 mehr Zuzüge nach Deutschland als Fortzüge
aus Deutschland erfasst. Wie das Statistische Bundesamt (Destatis) auf
Grundlage der endgültigen Ergebnisse für das Jahr 2022 weiter mitteilt, fiel
der Wanderungsüberschuss mehr als viermal so hoch aus wie im Vorjahr mit
329 000 mehr Zuzügen als Fortzügen. Damit zeigt die Statistik die höchste
bisher registrierte Nettozuwanderung innerhalb eines Berichtsjahres seit Beginn
der Zeitreihe im Jahr 1950. Insgesamt wurden im Jahr 2022 rund
2 666 000 Zuzüge und 1 204 000 Fortzüge über die Grenzen
Deutschlands erfasst. Im Vorjahr waren es noch rund 1 323 000 Zuzüge
und 994 000 Fortzüge.
Gesamtzahlen finden sich weiter unten:
Anzahl der Ausländer
in Deutschland 13,38
Millionen
Ausländer in Deutschland (gemäß AZR) bis 2022
Anteil der
ausländischen Bevölkerung an der Gesamtbevölkerung 14,6 %
Anteil der Bevölkerung mit Migrationshintergrund 28,7%
Innerhalb
eines einzigen Jahres sind 2,6 Millionen Menschen nach Deutschland gezogen. Zum
Vergleich, die gesamte Bevölkerung der Schweiz zählt 8,6 Millionen Menschen.
Wenn man diese Werte an sich heranlässt leuchtet auf einmal ein, dass wir heute
nicht mehr von einzelnen traumatisierten Personen reden, sondern von einer
traumatisierten Gesellschaft. Anngwyn St.Just, die mit Peter Lewin
zusammengearbeitet hat und eine der bedeutendsten Trauma Therapeutinnen der
Gegenwart ist, gab ihrem Buch den Titel: Soziales Trauma. Die weiteren, hier
folgenden Beispiele aus meiner Praxis mögen diese gesellschaftliche Situation
ein wenig illustrieren und verdeutlichen:
Tomeo wurde in Deutschland geboren, kam
mit knapp drei Monaten zur Großmutter nach Sizilien. Als er 6 Jahre alt war
kamen die Eltern mit dem Auto aus Deutschland luden seine Sachen ein und
wollten zurück nach Deutschland fahren. Da legte sich die Großmutter auf die
Fahrbahn und blockierte die Ausfahrt. „Nur über meine Leiche, der Junge bleibt
hier“. Am Ende siegten die Eltern. Es
gab endlose Ströme von Tränen.
Tomeo wurde
Schulverweigerer. Mit 15 stand er bereits zum zweiten Mal vor dem Jugendrichter
und wurde wegen vorsätzlicher Körperverletzung zu einer Jugendhaftstrafe
verurteilt. Die Eltern waren fassungslos. Man hatte doch alles getan damit es
den Kindern besser gehen soll als den Eltern. In Italien hatte es keine Arbeit
gegeben, hier, beim Daimler, in Sindelfingen, hatte der Vater einen guten
Verdienst, der Junge könnte studieren. Aber nein, er macht alles kaputt. Im
Jugendknast muss ein Kollege gewesen sein, der Tomeo verstand. Dem Jungen wurde
eine Chance gegeben, tatsächlich schloss er vier Jahre später mit Abitur ab und
studierte. Es sah so aus, als habe sich alles zum Guten gewendet. Äußerlich
schon: Er war selbständig, verdiente gut, aber etwas fehlte.
Er kam zu
mir, mittlerweile 45 Jahre alt, weil er sah, dass er sich etwas ganz dringend
wünschte, sich aber so verhielt, dass er es nie bekommen konnte: Eine stabile
Beziehung zu einer Frau. Da vergingen einige Sitzungen, ehe wir bei der Szene
ankamen, in der sich die Großmutter auf die Straße vors Auto legte. Zum ersten Mal, nach eigenen Aussagen, konnte
Tomeo nach Jahrzehnten wieder weinen.
Dolores wurde als Säugling nach Andalusien
gebracht und wurde nach Deutschland geholt, als es Zeit war eingeschult zu
werden. Als sie zu mir kam, hatte sie enorme Stimmungsschwankungen und oft
wochenlang keine Energie irgendetwas zu tun. Das Leben schien ihr sinnentleert
und ihre Ehe stand auf dem Spiel, weil ihr Mann nicht verstand was mit ihr los
war. Sie wusste es selbst nicht. Als sie im Erzählen zu wimmern begann, fand
sie sich in der Zeit wieder, als sie in die Schule musste und oft morgens, auf
dem Schulweg ihr Frühstück wieder erbrach, die Situation war einfach zum
Kotzen. Als sie ganz allmählich ihre Migrationsgeschichte herausfand, die
Erinnerungen lagen tief verborgen, hatte sie den Eindruck, es geht ihr seit der
Behandlung noch schlechter. Es verging viel Zeit, bis sie den Weg zu ihrem
inneren Kind fand und noch einmal viele Wochen, ehe sie dieses Kind annehmen
konnte, das so verzagt und hilfsbedürftig war. Dann, allmählich, kam wieder
Sinn in ihr Leben, denn nun wusste sie, dass sie dieses verschüchterte Kind an
der Hand nehmen und es begleiten muss bis es erwachsen und schließlich so alt
sein wird wie sie selbst. Anders ausgedrückt, sie wusste, dass sie von jetzt
an, den Persönlichkeitsanteil nähren musste, der im sechsten Lebensjahr in
seiner Entwicklung stehen geblieben war. Und dieser Anteil war stehengeblieben,
weil ihn die Situation komplett überforderte. Dieser Teil, der mit der
Überforderung nicht zurechtgekommen war, musste abgespalten werden, damit eine
weitere Entwicklung möglich war. Manchmal wird das auch Abspaltung von
Seelenanteilen genannt. Die erwachsene Frau musste nun in die aktuelle Psyche
wieder hineinnehmen, was für ein Kind zu groß war, um es zu tragen. Es ging ihr
darum zunächst schlechter, weil sie nun das Leid bewusst erleben musste, das
sie damals ausgeblockt hatte. Sicher kein leichter, aber ein
erfolgversprechender Weg. ,
Kimon traf mit 4 Monaten von Düsseldorf
kommend bei seiner Oma in Kefalonia ein. Mit fünfeinhalb, zurück in
Deutschland, besuchte er zum ersten Mal einen Vorschulkindergarten in
Paderborn. Kimon? Soll das eigentlich Kimono heißen und du bist ein
Kleidungsstück oder heißt du Simon und hast einen Sprachfehler? Der Vater hatte
nur eins im Kopf: der Junge muss erfolgreich sein. Mach erst mal deinen
Hochschulabschluss, dann kommen die Mädels schon von alleine. Auch heute, wenn
er so vor mir sitzt, zieht er das Genick ein. Alles in ihm ist noch immer drauf
gefasst, dass es Schläge gibt vom strengen Vater. Er möchte sich aufrichten,
aber das würde bedeuten, sich gegen den Vater zu wenden und das ist schwer,
denn er versteht ihn ja. Der Vater wollte doch nur das Beste. Und dieses Beste
war in Griechenland nicht zu bekommen, er musste auswandern. Ein fast
unlösbares Dilemma für den Sohn: Er will den Vater achten für seine Bemühungen
und er muss sich doch von ihm lösen. Das aber bedeutet in der Sicht des Vaters
die größte Respektlosigkeit. Kann er zu sich selbst finden ohne sich vom Vater
zu lösen?
In den hier gewählten Beispielen ging es um:
1.
Warum
bin ich nicht erfolgreich, habe ich einen inneren Boykotteur?
2.
Um
Bindungsangst
3.
Um
den Kontakt zum inneren Kind und
4.
Um
die Befreiung vom Vater.
Das sind
Themen, wie wir sie aus dem Praxisalltag kennen, aber, und darum geht es mir
hier, bei den Einwandererkindern haben wir zusätzlich zur ohnehin schwierigen
Thematik, noch eine Migrationserfahrung mit einzubeziehen. Also zum Beispiel die traumatisierende
Erfahrung der Ohnmacht, die Kinder wurden einfach verpflanzt. Oder der
Kulturschock, die Kinder wurden über Nacht mit einer fremden Sprache, fremden
Kultur, fremden Umgangsformen konfrontiert.
Natürlich
geht es am Ende darum, gestalttherapeutische Möglichkeiten zu nutzen und
präzise zu arbeiten, egal wie das Schicksal meines Klienten heißt. Ich bin aber
der Meinung, dass es hilfreich ist, wenn wir für die Einwandererproblematik
sensibilisiert sind und vielleicht, weil wir damit schon Erfahrung gesammelt
haben, schneller auf den Punkt kommen.
Zum Abschluss, weil es meine Absicht ist, den
Blick für dieses Thema zu schärfen, hier noch ein letzter Gedanke zum Stichwort
Migration: Ich zitiere aus dem Buch „die Reise unserer Gene“ von Krause und
Trappe:
„So etwas
hatte Europa noch nicht erlebt. Der Strom an Migranten, der über den Balkan ins
Zentrum des Kontinents vordrang, markierte eine echte– hier passt das Wort
tatsächlich– Zeitenwende. Nichts war danach mehr wie zuvor. Unzählige bäuerlich
geprägte Großfamilien kamen, sie wollten vor allem eins: neues Land in Besitz
nehmen. Die alteingesessenen Europäer waren ohne Chance. Zunächst zogen sie
sich zurück, später verschwand die alte europäische Kultur. Die Menschen, die
Europa fortan bewohnten, sahen anders aus als jene, die sie verdrängt hatten–
ein Bevölkerungsaustausch. 8000 Jahre sind seit dieser einschneidenden
Migrationswelle vergangen doch erst seit kurzem wissen wir Genaueres über
sie“.
Mit Hilfe
der Entschlüsselung der Geninformation, die sie aus den Knochen von Menschen
entnehmen, die vor Tausenden von Jahren gelebt haben, gelangen Wissenschaftler
nun zu einem klareren Bild unserer Vergangenheit. Der Neandertalerverschwand
vor rund 40 000 Jahren. Um diese Zeit wanderte der Homo sapiens aus Afrika über
den Balkan nach Mitteleuropa. Dann verdrängte ihn die Eiszeit. Als die wieder
vorbei war, so vor 18 000 Jahren kehrten jene wieder nach Mitteleuropa zurück,
die vor dem Eis nach Anatolien oder Spanien ausgewichen waren. Also wieder
Migration. Vor 8000 Jahren passierte dann, was oben beschrieben wurde und vor
4500 Jahren gab es noch einmal eine große Welle von Einwanderern, sie kam aus
den Steppen Südrusslands. Wieder veränderten sich unsere Gene, Spiegelbild der
veränderten Lebenswirklichkeit.
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