Die Gestaltlehre ist nicht eine Meinung oder eine Ansicht unter vielen, sie
ist vielmehr eine der beiden ganz grundlegenden Sichtweisen, die es schon seit
dem Beginn der Neuzeit gab. Im 19. Jahrhundert sind die Unterschiede
zwischen diesen beiden Grundformen der Wirklichkeitsbeschreibung aber erst so
richtig hervorgetreten. Auf der einen Seite eine strikt materialistisch
vorgehende Wissenschaft, die überzeugt war, dass analytisches Denken
schließlich die letzten Geheimnisse lüften wird und auf der anderen Seite die
umfassende, Sichtweise einer Ganzheitslehre, die sich im Gestaltgedanken
kristallisierte und die Überzeugung vertrat, dass jede Erscheinung immer mehr ist
als die Summe ihrer Teile. Strikter Materialismus konnte aber nur Teile
beschreiben, die zwar immer kleiner wurden, in deren Innersten sich aber nicht
die Antwort auf alle Fragen verbarg, sondern die Vernichtung. Als die Physik
beim kleinsten Teil angekommen war und als sie auch das noch spalten wollte,
entfesselte sie die verheerendste Zerstörung, zu der Menschen je fähig waren.
Ihr wisst ja, dass ich gerne die historische Entwicklung unserer
beruflichen Disziplin beleuchte und auch diesmal trägt wieder ein Blick in die
Entwicklung des Denkens zum Verständnis bei. Ich muss hier ein bisschen weiter
ausholen:
In der „Geschichte der Psychologie", von Hans Lück, findet sich
folgende knappe Beschreibung: „In der zweiten Hälfte des 19.Jahrhunderts setzte
sich eine Auffassung durch, sie sich lange Zeit angebahnt hatte: Für die
Wissenschaft von den Phänomenen des Lebens - Biologie und Psychologie
eingeschlossen - schien es nun logisch, die gleichen Grundlagen anzunehmen, wie
für die Physik und Chemie. Diese Auffassung wird als Materialismus
bezeichnet."
(Lück S.46) Hermann von Helmholtz, Emil Du Bois Reymond, Ernst Brücke und
Carl Ludwig, vier führende deutsche Physiologen, Physiker und Mediziner hatten
in Berlin einen Club gegründet, dessen Mitglieder sich ausdrücklich
verpflichten mussten, keine anderen als physikalisch-chemische Kräfte im
Organismus anzunehmen.
Mit dem Credo dieses materialistischen Denkens sind auch die Psychologen
des 19. Jahrhunderts ausgebildet worden. Wundt war Student bei Du Bois Reymond
und Assistent bei Helmholtz. Pawlow hatte unter Ludwig studiert und Freud war
Student und Mitarbeiter von Ernst Brücke.
Zur Verdeutlichung. Helmholtz war Mediziner, Physiologe und
Physiker. 1821-94.
1848 Lehrstuhl für Physiologie in Berlin. Ab 1858 Professur in Heidelberg
wo Wundt von 58 bis 63 sein Assistent war. Helmholz wies den Ursprung von
Nervenfasern aus Ganglienzellen nach. Erfand den Augenspiegel zur Betrachtung
des Augenhintergrunds. Lernte die Nervenleitgeschwindigkeit zu messen.
Forschungen zur optischen und akustischen Physiologie. Begründete die
wissenschaftliche Meteorologie.
Do Bois Reymond 1818-98. Medizin, Physiologie. Sieht die
Naturwissenschaft als das absolute Organ der Kultur und das einzige menschliche
Bestreben. Folglich ist die Geschichte der Naturwissenschaft die eigentliche
Geschichte der Menschheit.
Brücke 1819-92. 1849-90 Pof. für Physiologie in Wien. Entdeckt gemeinsam mit Rudolf Virchow die
Zelle als den Elementarorganismus des Lebendigen.
Carl Ludwig 1816-95. Physiologe. Harn entsteht primär über die treibende
Kraft des Blutdrucks als Filtrat der Glomeruli.
Elementarlehre
Wenn man von der Leipziger Schule spricht, ist in erster Linie
Wilhelm Wundts physiologische oder experimentelle Psychologie gemeint. Wundt,
1832 –1920. Medizinstudium in Tübingen, wendet sich der Physiologie zu und
studiert in Heidelberg bei Robert Bunsen weiter. 1858 wird er dort bei H. von
Helmholtz Assistent bis 1862. 1864 wird er Prof. für Anthropologie und
medizinische Psychologie
Eine „Psychologie vom naturwissenschaftlichen Standpunkte aus“ bedeutet für
Wundtd, seelische Vorgänge auf Grundlage physiologischer Veränderungen erklären
zu wollen, Empfindungen stellen für ihn erste psychische Akte dar, die durch
Sinnesreize zustande Kommen. Nach kurzer Zeit in Zürich, wird Wundt 1875 nach
Leipzig berufen, wo er bis an sein Lebensende als Philosoph wirkt. Wundt
gründet in Leipzig 1879 das erste Experimentalpsychologische Institut
überhaupt.
Grundzüge seiner Lehre: (Lück, S.57)
Wundt vertrat die Auffassung, die Psychologie habe die Tatsachen des
Bewusstseins, ihre Verbindungen und Beziehungen zu untersuchen, um schliesslich
Gesetze aufzufinden, von denen diese Beziehungen beherrscht werden. Zugang zum
Psychischen sollte hier die Erfahrung und nicht irgendeine Metaphysik bilden.
Wundts Ziel war, das Bewusstsein in nicht weiter aufteilbare Bestandteile zu
zerlegen; solche kleinstmöglichen Bestandteile nannte Wundt Elemente des
Bewusstseins. Die Fragen heissen also: welches sind die Elemente des
Bewusstseins? Welche Verbindungen gehen diese Elemente ein? Und welche
Verbindungsgesetze lassen sich hierbei feststellen?
Diesem Programm der Elementespsychologie blieben er und seine Schüler
jahrzehntelang treu. Er nannte seinen Weg auch voluntaristische Psychologie,
weil psychische Erlebnisse nicht Ereignisse, sondern Ergebnisse von
Willenshandlungen sind, genannt Voluntarismus.
Wundt grenzte sich mit seiner naturwissenschaftlichen Psychologie gegen die
metaphysisch-spekulativen Herbartianer ab.
Er hat Psychologie als empirische Wissenschaftsdisziplin etabliert, hat
dadurch aber auch einiges verhindert, so die Erforschung höherer psychischer
Prozesse. Individuelle Unterschiede im Sinne von Persönlichkeitsmerkmalen wurde
nicht erforscht und die experimentelle Untersuchung sozialer Prozesse kam nicht
vor.
Die Würzburger Schule.
Oswald Külpe hatte bei Wundt studiert und war 8 Jahre Assistent bei ihm,
dann löste er sich mehr und mehr von Wundt. Im Gegensatz zu Wundt (Lück, S.64)
akzeptiert Külpe nicht nur das Unbewusste, sondern betont die Einheit des
Seelenlebens: “Alle Einzelheiten unseres Seelenlebens werden zu Einheiten, zu
Ganzen zusammengefasst, in denen eine Tendenz, ein Gedanke, ein Ziel, eine
Aufgabe im Mittelpunkt stehen, während das Übrige ein.- und untergeordnet bzw.
ausgeschaltet wird, je nachdem es dieser Tendenz dient oder fremd ist.“ Über
seine Forschungsmethode schreibt er: „Wie die eigene Erfahrung die Grundquelle,
so ist die Selbstbeobachtung die Grundmethode der beschreibenden Psychologie“.
Heute, da der elemtarpsychologische Ansatz Wundts allgemein als zu eng
angesehen wird, sehen sich die meisten Psychologen eher auf der Seite Bühlers
(Külpe Schüler ) und Külpes. Gern wird in diesem Zusammenhang darauf hingewiesen,
dass die Würzburger Schule prägenden Einfluss auf die Gestaltpsychologie
ausgeübt und eine kognitive Psychologie erst möglich gemacht hat.
Gestalt- und Ganzheitspsychologie
Die Gestaltpsycholgie wird fast immer mit den drei deutschen Psychologen Max
Wertheimer, Wolfgang Köhler und Kurt Koffka in Verbindung gebracht, sie wird
als deren Werk dargestellt (Lück S.68) Aber, gestaltpschologisches Gerdankengut
findet sich seit der Antike. Als Gegenbewegung zum elementaristischen Denken in
der zweiten Hälfte des 19.Jahrhunderts erhält die ganzheitliche Betrachtung in
der Philosophie, Medizin, Biologie etc. zeitlich parallel oder sogar noch
früher als in der Psychologie besondere Bedeutung.
Eine Hauptthese aller gestalt- und ganzheitlichen Richtungen in der Psychologie
ist, dass das Ganze mehr als die Summe seiner Teile sei. Diese Abkehr vom
elementaristischen und die Hinwendung zum Ganzheitlichen Denken in der
Philosophie und Psychologie erreichte seinen Höhepunkt etwa Ende der zwanziger
Jahre und hat das ganze Jahrhundert geprägt.
Der Bereich der menschlichen Wahrnehmung, insbesondere der optischen erwies
sich als wichtigstes Arbeitsgebiet aller gestaltpsychologischen Richtungen.
Hier zeigte sich der Unterschied zur elementaristischen Bewusstseinspsychologie
am deutlichsten. Nimmt man in der Gestaltpsychologie an, dass ein Individuum
ganzheitlich wahrnimmt und erlebt, so muss die Forschungsmethode diesem
Gesichtspunkt folgen, das phänomenologische Vorgehen ist daher folgerichtig.
Grazer Schule und die Produktionstheorie
Der Verdienst der Begründung einer Gestaltpsychologie kommt
Österreichischen Philosophen und Psychologen zu, insbesondere dem Grazer
Philosophen Alexius Meinong.
Gemeinsam mit Christian von Ehrenfels gilt er als Begründer der Grazer
Schule. Ehrenfels zeigte 1890 am Beispiel der Melodie die Merkmale der
Organisation der Wahrnehmung. Gegenüber den Einzeltönen ist die Melodie etwas
Neues. Dass Gesamtheiten mehr sind als die Summe ihrer Teile erklärte Meinong
mit Aktivitäten des Betrachters – Produktionen- daher Produktionstheorie.
Frankfurter/Berliner Schule
Der Beginn der experimentellen Gestaltpsychologie wird nach 1910-12
verlegt. Max Wertheimer begann mit dem Stroboskop zu experimentieren.
Wertheimer (1880-1943) hatte bei
Külpe in Würzburg promoviert. Ab 1916 lehrte er in Berlin, 1929 folgt ein Ruf
nach Frankfurt, 33 Emigration in die USA. Neu an der Wertheimerschen
Gestaltpsychologie war, dass sie – auch im Gegensatz zur Grazer Schule –
Gestalten als ganz ursprünglich ansah. Nicht der Mensch schafft Gestalten aus
Sinnesdaten, sondern Gestalten sind selbst die Grundeinheiten des Seelenlebens.
(Lück, S.71)
Wolfgang Köhler und Kurt Koffka waren anfangs Assistenten bei Wertheimer.
Köhler leitete von 1914 bis 20 die Anthropoidenstation der Preussischen
Akademie der Wissenschaften auf Teneriffa. Dort entstanden die berühmten
Schimpansenversuche. Es liess sich zeigen, dass die Tiere in der Lage waren,
komplexe Probleme zu lösen, sie benutzten z.B. einen Stock, um Bananen von der
Decke zu holen. Köhler beobachtete, dass die richtige Lösung nicht zufällig (
nach trial and error, wie bei Thorndike) , sondern plötzlich auftritt. Ziel und
Hilfsmittel bilden eine Gestalt, Diese Erkenntnis der Gestalt nennt Köhler
Einsicht. Parallel zu Wertheimer erkannte Köhler die einsichtsvolle Handlung
als Gestalt.
1922 wird Köhler Direktor des Berliner Psychologischen Instituts und damit
beginnt die eigentlich Blütezeit der Gestaltpsychologie in Deutschland.
Kleine soziologische Notiz: Die Studenten, die sich im Berliner Institut
einfanden, studierten Psychologie mit dem Ziel der Promotion, quasi als
Luxusfach ( Ein Berufsbild des Psychologen existiert noch nicht) Die Studenten
kamen durchweg aus der oberen Mittelschicht, auffällig ist der für die damalige
Zeit große Anteil an Frauen und Ausländern, insbesondere aus osteuropäischen
Ländern. Viele der Mitarbeiter und Studenten waren politisch links eingestellt,
sie schrieben für die sozialistischen Monatshefte, Ossietzkys „Weltbühne“,
interessierten sich für Kunst, Musik und Naturwissenschaften.
Genau in dieser Gruppe finden wir Fitz Perls in den zwanziger Jahren.
Einige Jahrzehnte später schreibt Perls:“Gestalt! Wie kann ich klarmachen,
dass es sich dabei nicht auch bloss um ein weiteres Konzept handelt? Wie kann
ich verdeutlichen, dass Gestalt - nicht
nur in der Psychologie – etwas der Natur Innewohnendes ist.
Hier schließt sich der Kreis wieder. Gestalt als ein umfassendes Konzept -
und da diese Sichtweise die Grundlage der Gestalttherapie bildet, werden wir
stümperhafte Gestalttherapeuten sein, wenn wir nicht von diesem
Ganzheitsprinzip beseelt sind. Und nicht vergessen, es handelt sich bei unserem
Geschäft um lebende Organismen, genau gesagt, um Menschen. Der Versuch, menschliches
Leben ausschließlich aus der Materie verstehen zu wollen, kommt uns heute schon
sehr seltsam vor. Der Gestaltpsychologe Kurt Goldstein sprach vom
organismischen Prinzip. Demnach werden wir uns selbst und andere nur verstehen,
wenn wir den organismischen Prozess sehen und der äußert sich im Wachsen. Alles
Leben ist ständig am Wachsen, nämlich seinem in uns eingebetteten Ziel
entgegen.
An dieser Stelle müssten wir eine kleine Erörterung des organismischen
Prinzips folgen lassen. Aber das verschieben wir auf ein Andermal.
3.Juni 2024
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