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Phänomenologie und Transpersonale Therapie


Als wir in der Ausbildung zum Gestalt Therapeuten über die Hintergründe der Gestalttherapie sprachen, spielte die Phänomenologie eine große Rolle. Nun wird in Kürze das Aufbautraining beginnen, das die Überschrift „Transpersonale Gestalttherapie“ trägt. Und zum ersten Mal habe ich mir jetzt die Frage gestellt, ob in der Transpersonalen Therapie die Phänomenologie eine ebenso große Rolle spielt wie in der Gestalttherapie.

Die Antwort lautet: Ja – und noch mehr. In der Transpersonalen Therapie spielt die Phänomenologie nicht irgendeine, sondern die zentrale Rolle. Sie ist nicht nur eine mögliche Herangehensweise, sondern genau die Haltung, die notwendig zur transpersonalen Sichtweise führt. Wenn wir der Aufforderung folgen: „Sieh die Welt wie sie ist. Verzichte darauf, sie sofort zu beurteilen, zu bewerten oder in Begriffen zu pressen,,die du erlernt hast“ - dann sehen wir mehr von der Wirklichkeit. Dann dringen wir bis zum Kern vor und bleiben nicht an der Oberfläche hängen. 

 Ein Beispiel: Wenn wir auf einen Baum blicken und darauf verzichten, ihn gleich als „Eiche“, „Buche“, „Birke“ oder „Ahorn“ zu benennen, sondern uns ganz auf dieses besondere Gewächs einlassen, dann tritt uns eine andere Dimension entgegen – etwa seine Energie. Vielleicht sehen wir ihn wie durch eine Wärmebildkamera. Vielleicht spüren wir den Kontakt zu dieser Lebensform, den Zusammenhang mit anderen Bäumen. Vielleicht steht die Linde in voller Blüte, und du nimmst einen Duft wahr, der dir so noch nie begegnet ist. Ein Duft, der sich in keine Worte fassen lässt.
 
Phänomenologie in der therapeutischen Praxis 
In der therapeutischen Praxis zeigt sich die phänomenologische Haltung darin, dass wir den Klienten einladen, zunächst ganz bei ihrer unmittelbaren Erfahrung zu bleiben. Anstatt eine Empfindung sofort zu erklären, zu analysieren oder in eine Diagnose einzuordnen, geht es darum, sie unverstellt wahrzunehmen. 

Ein Klient mag zum Beispiel sagen: „Ich habe ein Druckgefühl in der Brust.“ In einer phänomenologischen Haltung fragen wir nicht zuerst: „Ist das Angst? Ist das Trauer?“, sondern wir bleiben beim reinen Erleben: „Wie genau spürst du den Druck? Wo fängt er an, wo hört er auf? Hat er eine Temperatur, eine Bewegung, eine Farbe?“ 

Durch dieses bewusste Verweilen im Wahrnehmen öffnet sich oft ein Zugang zu tieferen Schichten: Das Druckgefühl verwandelt sich vielleicht in ein Bild, in eine Erinnerung, oder in eine Ahnung von etwas Größerem, das jenseits der individuellen Biografie liegt. Auf diese Weise kann eine Erfahrung, die zunächst nur körperlich erschien, eine transpersonale Dimension gewinnen. 

Die therapeutische Begleitung besteht darin, den Raum zu halten – still, präsent und urteilsfrei – und den Klienten darin zu unterstützen, seiner Wahrnehmung zu vertrauen. Manchmal geschieht dies im Schweigen, manchmal mit behutsamen Fragen, manchmal auch durch Atem- oder Achtsamkeitsübungen. Entscheidend ist nicht die Technik, sondern die Haltung: das Vertrauen, dass sich im reinen Erleben mehr zeigt, als der Verstand zunächst fassen kann. 

Genau an diesem Beispiel wird deutlich, daß die phänomenlogische Wahrnehmung Zugang zu jenen Bereichen der Realität eröffnet, die sich nicht in Worte und mentale Strukturen pressen lassen. Als Kinder konnten wir uns totlachen über ein einziges Wort. Wir wiederholten es und wiederholten es und betonten es neu bis es seinen gewohnten Sinn verließ und in etwas Neues, Lebendiges überging. Ich erinnere mich an das Wort: Sacktuch. Zunächst erschien mir sofort das rot-weiss karierte Taschentuch, dass der Zimmermann, der dem Vater einen Hühnerstall baute, aus der Tasche zog, um sich die Nase zu wischen, nachdem er sich durch die Finger geschnäuzt hatte. Aber dann verwandelte sich das Wort. Aus Sacktuch wurde ein Sagduuch und bald ein ein SagmalSagduuch. Es klang bald wie ein Lied, wie ein Gedicht, Sacktuuch, Tuchsack, Sacktuuch. Wir riefen es rhythmisch und marschierten mit zackigem Schritt durchs Zimmer :Sacktuck, Sackruck, Tuckasacka, Tuckasacka und konnten uns zwischendurch nicht mehr halten vor Lachen. Für uns war in diesem einen Wort die ganze Welt enthalten. 

Es ist ähnlich wie beim Meditieren. Natürlich sind da Gedanken, aber du verfolgst sie nicht weiter, denkst sie nicht zu Ende. Du gehst auf eine andere oder mehrere andere Ebenen. Du wirst weit. Die Grenze zwischen dir und der Welt wird durchlässig. Du erfährst den Zugang zum Nichtmateriellen, Nichtgreifbaren, zu einer Vielfalt und einem Reichtum, wie ihn die Sprache der Kaufleute und Ingenieure niemals ahnen lässt. Wenn du die Augen schließt und nach innen gehst, stellst du deine gesamte Wahrnehmung um. Du öffnest Kanäle, über die die Welt Verbindung zu deinem Inneren hat und du Verbindung nach draussen, zur Welt.. Du verlässt die gewohnte dreidimensionale, rein mental verarbeitete Wahrnehmung zugunsten einer Haltung, die auch jene Möglichkeiten einschließt, die wir im Alltag meist ausblenden. Du wechselst vom Denken ins Bewusstsein. 

Bewusstsein heißt „bewusstes Sein“, nicht „Nachdenken über das Sein“. Im Alltag vermischt die Sprache diese Bedeutungen oft. Sie sagt: „Ich bin mir bewusst, dass ich Helmut noch 300 € schulde.“ – Aber das ist Wissen, nicht Bewusstsein. Wissen heißt nicht, dass man sich einer Sache wirklich bewusst ist. Bewusst sein heißt, dem universellen Bewusstsein so nahe zu kommen, dass individuelle und universelle Bewusstsein einander berühren - in glücklichen Momenten sogar durchdringen. So könnte man beschreiben, was bei einem Satori-Erlebnis passiert. Fritz Perls nannte Satori „a Small awakening“, eine Mini-Erleuchtung. 

Aus einer phänomenologischen Haltung auf die Welt zugehen heisst, der Bewusstheit immer näher zu kommen. In der Transpersonalen Gestalttherapie ist, genau wie auch in der Gestalttherapie, das Wahrnehmen zentral. Nur hier geht es nicht bloß um das Wahrnehmen der Dinge und Gegenstände die man anfassen kann, sondern um die Wahrnehmung des Immateriellen. 

 Die Nähe zur Schulmedizin hat es der klassischen Psychotherapie schwer gemacht, offen einzugestehen, dass sie es täglich mit dem Nichtgreifbaren, dem Immateriellen, dem Transpersonalen zu tun hat: mit Gefühlen, mit Befindlichkeiten, mit Geist und Gedanken, mit Formen von Bewusstheit. Die Überzeugung aus dem 19. Jahrhundert, nach der nur das Mess- und Wägbare erforscht und ernst genommen werden kann, gerät hoffentlich bald ins Wanken. 


 Rajan, 22.9.2025

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