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Fritz Perls und die perfekte Therapie


von Rajan Roth                                                                                                                                                                              
Fritz Perls hat polarisiert. Er wurde vergöttert oder verteufelt.
Kritiker schrieben:

Milan Sreckovic  im Handbuch der Gestalttherapie: “Die radikale Ablehnung und Missachtung der ethischen Standards ebenso wie die Verachtung der bestehenden Konventionen und die radikale Verweigerung einer Differenzierung der privaten Person vom Beruf des Psychotherapeuten, die P. Goodman und F. Perls konsequent lebten – und dadurch haben sie eine unsägliche Tradition in der Gestalttherapie initiiert -  ist bei allem Respekt gegenüber kultur- und gesellschaftskritischem Freigeist und ebensolcher Unbestechlichkeit meiner Überzeugung nach unverantwortlich und unethisch, mit keiner Theorie oder politischen Weltanschauung begründbar und auch nicht mit mir bekannten gestalttherapeutischen Wertorientierungen zu vereinbaren.“ (Handbuch der Gestalttherapie, Hrsg. R. Fuhr u.a. Göttingen 2001, S.154)

Die Autoren Frank Staemmler und Werner Bock bemängeln am Vermächtnis von Fritz Perls, dass er keine Theorie der Gestalttherapie hinterlassen hat. In ihrem Buch "Neuentwurf der Gestalttherapie" (München 1987, S.17) vertreten sie die Meinung, Perls habe seinen Wunsch nach Selbstdarstellung über das Bedürfnis nach theoretischer Deutlichkeit gestellt. Sie teilen mit anderen Autoren die Ansicht, F. Perls sei stark narzistisch gewesen und vermuten ,"dass Perls es vermied, diesem Bedürfnis (nach theoretischer Darstellung) nachzugehen, weil es für ihn wichtig war, das Geheimnis seiner Arbeit... für sich zu behalten."

Hier ist Steammler noch zurückhaltend, er formuliert so, dass der Leser die versteckte Kritik hören oder überhören kann. In "Der leere Stuhl" (München 1995, S.120 und 121) wird er deutlicher. Er unterteilt die Arbeit mit dem leeren Stuhl in 1. Phantasiegespräch-Technik und 2. die Selbstgespräch-Technik. Verkürzt gesprochen nimmt in der ersten Technik eine zweite Person auf dem leeren Stuhl Platz, eben eine, die aus der Phantasie des Klienten stammt - der Vater, die Mutter, der gehasste Chef etc., während in der Selbstgespräch-Technik ein Persönlichkeitsanteil oder ein Thema des Klienten auf dem leeren Stuhl Platz nimmt - z.B. top-dog, under-dog. Auf S.121  gelangt Staemmler dann zu der Formulierung: "Ich denke, es ist deutlich geworden, dass ich die monologische Form bevorzuge---Die dialogische Form der Phantasiegespräch-Technik, die ich als phantasierte Reaktion bezeichnet habe, verwende ich selbst überhaupt nicht!" An dieser Stelle höre ich eine Tür zuschlagen.

Gordon Wheeler schreibt in "Kontakt und Widerstand", Köln 1993 S.58: " ... was hier in Frage gestellt wird, ist nicht nur Perls` Verständnis der Gestaltpsychologie an sich, das bestenfalls bruchstückhaft ist, sondern sein Verständnis des Assoziationismus und sogar der Psychoanalyse selbst."  Das muss man sich auf der Zunge zergehen lassen: Fritz Perls hat die Gestaltpsychologie nicht verstanden, die Art, mit Assoziationen therapeutisch zu arbeiten nicht und damit natürlich auch die gesamte Psychoanalyse.
Gordon Wheeler ist heute Direktor des Esalen-Instituts. Esalen ist die Wiege des Human-growth-movement, Fritz Perls wird zu den Begründern dieses Instituts und der gesamten Bewegung gezählt. Gordon Wheeler hat ihn sozusagen beerbt, aber dann fügt er hinzu: naja, Fritz, das war ein bemerkenswerter Anfang, aber die eigentliche theoretische Arbeit habe ich geleistet.
Bei unserem Besuch vor drei Jahren, im Esalen-Institut, stellten wir fest, dass es im Buchladen kein audio-tape, kein Video noch nicht einmal ein Buch von Fritz Perls zu kaufen gab. Gordon Wheelers Buch jedoch, steht auf den Regalen und auf S.17 begründet er auch warum: "Daher besteht meine Hoffnung eigentlich darin, dass die Gestaltlehre am meisten durch dieses Buch beeinflusst werden kann." Dafür spricht man schon mal dem "Vater", den man soeben beerbt hat, jegliche Qualifikation ab.

Den meisten Staub hat die Gestaltsitzung  "Fritz Perls mit Gloria" aufgewirbelt, ein Film der 1965 für das Fernsehen gedreht worden war, zum Zwecke des Vergleichs mit der Arbeit von Albert Ellis und Carl Rogers. In der Zeitschrift "Counselor, the Magazine for Addiction Professionals, Dez. 2005, S.60-66, schreibt Howard Rosenthal (meine Übersetzung): "...die Zerstörung jedoch war angerichtet. Während der Film Angehörige des Berufsstandes nicht gerade davon überzeugte, Gestalttherapeuten zu werden, hat er doch Tausende dazu überredet, konfrontativer mit ihren Klienten zu arbeiten, entschiedener, wenn nicht aggressiver aufzutreten, das Geschehen in der Sitzung zu kontrollieren und dem Klienten auch mal etwas ins Gesicht zu sagen. Viele Berater (counselors) sahen in der Sitzung mit Gloria für sich so etwas wie einen Blankoscheck dafür, mit ihren Klienten geistiges Judo aufzuführen. Fritz Perls schien dem Durchschnitts-Kollegen grünes Licht dafür gegeben zu haben, dass er angreifen, widersprechen, kleinmachen darf, um den Klienten verbal auf Kurs zu zwingen. ...in einem Arbeitsfeld (Sucht- und Drogenberatung), in dem Konfrontation oft als Erfolgssmethode gehandelt wurde, haben die Kollegen selbstverständlich einem Vorbild die Krone aufgesetzt, von dem sie glaubten, es leite sie an feindselig, provokativ, sarkastisch, manipulativ zu sein. Für sie war Fritz Perls der König."

Befürworter schrieben:

Ruth Cohn schreibt in "Gelebte Geschichte der Psychotherapie", Stuttgart 2008 auf S.299-301, dass sie ihn 1964 auf einem Kongress wiedergetroffen habe. Er erzählte, er sei krank und dem Tode nahe gewesen. Ida Rolf habe ihm geholfen, seine Lebensenergie wiederzufinden. "Nun strahlte Fritz Weisheit, Lebensmut, Zärtlichkeit aus. Er war ein Verwandelter. Einmal sagte er zu mir: <heute weiss ich, was los ist mit der Psychotherapie, wir müssen den Patienten durch den Impass führen>."  Und auf S.304: "...Fritz` Wahrnehmungsfähigkeit war einzigartig, er erspürte die jeweilige Wichtigkeit eines physiognomischen Ausdrucks oder einer minimalen Bewegung, verbaler oder nonverbaler Zeichen seiner Patienten mit einer geschulten Intuition, die wie Hexerei anmutete. Ich wusste, dass diese Hexerei eine Kombination von Genialität, sauberen Konzepten, geschulter Intuition, lebenslangem Fleiss und ungeheurer Erfahrung war."

Aus Arnold Beisser  "Wozu brauche ich Flügel?" Wuppertal 2009, S.132, 133. Beisser leitete ein großes psychiatrisches Krankenhaus. Dort gab es, wie er erzählt, auch einige austherapierte Patienten, die unmöglich bizzarsten Fälle. Fritz Perls wollte jeden vorgeführt haben und er "erreichte bei einigen dieser therapeutisch unzugänglichen Fälle erstaunliche Ergebnisse. Im Kontakt mit ihm kamen diese Patienten in ihre beste Verfassung, so dass sie während der Gespräche mit Fritz ganz anders waren, als wir sie vorher kannten. Zum ersten Mal erschien ihr ganzes merkwürdiges Verhalten und ihr furchterregendes Sprachmuster klar verständlich. Er hatte Kontakt zu ihrer Stärke gefunden. Genau das passierte auch bei mir. Obwohl er das nie so gesagt hätte, machte er mir klar, dass ich der Architekt dessen bin wie ich meine Welt sehe, und nicht das hilflose Opfer. Ich fühlte mich durch ihn gestärkt und verstanden. Er hörte mir genau zu. Indem er meine Worte geringfügig interpretierend wiedergab, spiegelte er mir, was ich wirklich gesagt hatte. Damit wurden meine Worte in den Vordergrund gestellt und ich konnte sogar sehen, dass es Alternativen gab, die ich vorher nicht wahrgenommen hatte."

Claudio Naranjo schreibt in "Gestalt, Präsenz, Gewahrsein, Verantwortung", Freiamt 1996, auf S.29  über Fritz Perls: "In seinem Denken gab es keine Trennung zwischen seinem Leben und seiner Arbeit. Das, was er <lehrte> wenn er Psychotherapeuten <ausbildete> bestand im Wesentlichen darin, dass er sie dazu brachte, sie selbst zu sein. Er vertraute darauf, dass das Sein ansteckend war und dass das für das intrinsische Erlernen der Psychotherapie ausreichend sei. Zu sein bedeutete für ihn, hier und jetzt zu sein, geistesgegenwärtig und verantwortungsvoll - das heißt, hinter all seinen Handlungen und Gefühlen zu stehen." Und auf S.276: "Als ich Fritz in Esalen kennenlernte...war er nicht mehr derselbe Fritz, den ich vorher gekannt hatte. Ich glaube, wir können sagen, dass er schon immer hochbegabt war, doch nun war die Zeit gekommen, in der sein Genie zur Blüte gelangte... Die Größe, die all diejenigen, die Fritz kannten, in der zweiten Phase seines Lebens in ihm spürten, war, glaube ich, der Ausdruck seiner Reife und nicht etwas, was in der ersten Phase seines Lebens offensichtlich gewesen wäre, so gross sein Talent auch gewesen sein mag."

Und zum Schluss Barry Stevens, "Don`t push the river", Köln 2005. Berry Stevens gehört zu den Pionieren des Lake Cowichan Experiments. Fritz Perls realisierte dort seine Idee eines Gestalt-Kibbutz. Barry schreibt auf S.67: "Er ist weicher, freundlicher, aber noch genauso scharfsinnig und entschieden. Ich habe keine Spur von Bitterkeit oder Boshaftigkeit entdeckt, dafür allerdings mehr Mitgefühl. Er scheint in allem etwas leichter geworden zu sein. <An meiner Methode muss was dran sein. Ich lerne immer noch dazu>."  Später, S.176: "Fritz ist jetzt fast die ganze Zeit über ein sehr warmherziger und freundlicher alter Gentleman. Er verbringt deutlich mehr Zeit damit, mit Leuten zu reden und zu plaudern als früher. Und er ist sehr viel geduldiger geworden."    
                                                                                                                                            
Meine Position als Lehrer für Gestalttherapie:

Fritz Perls musste den Schlamassel des ersten Weltkriegs bewältigen, des Faschismus und der Judenvertreibung, der Auseinandersetzung mit und der Ablösung von Freud, des Abschieds und der Ablösung von Süd-Afrika, des erneuten Aufbaus einer Praxis in New York, dann die Ablösung vom Gestaltinstitut New York, Aufbau von Esalen und erneute Ablösung für den letzten Schritt nach Canada. Immer wieder Schritte ins Unbekannte, Versuche, das Richtige, das für Fritz Richtige, zu tun. Immer wieder herausfinden: Wie geht das? Wie geht es diesmal? Und fast am Ende dieses gewaltigen Weges sagte er zu Barry Stevens, S.70: "Am Ende bin ich perfekt. Ich bin angekommen. Besser kann ich es nicht."
Am Ende war die Art mit Menschen zu arbeiten perfekt, so dass sie in ihrer Autonomie unterstützt wurden, dass ihre Prozesse angeschoben wurden, dass sie zu sich selbst fanden. Es ist ein Entwicklungsroman: nach beschwerlicher Schwangerschaft und heftigster Geburt, nach mühsamen Kindheits- und Jugendjahren ist sie endlich erwachsen, die Gestalttherapie. Autoren kritisieren Fritz Perls gerne für Geschehnisse, die auf dem langen Weg passiert sind, Versäumnisse, Irrungen, fehlgeschlagene Versuche. Anstatt die Perfektion am Ende des Weges zu sehen.
Wir haben den unglaublichen Vorteil, uns auf den freundlichen, warmherzigen, alten Gentleman beziehen zu können, nicht auf den kantigen, ab und zu verletzenden Wilden der frühen 60iger Jahre. Wir müssen die Härte nicht noch einmal auflegen, die Fritz brauchte, um seinem Baby in einer feindlichen Welt eine Zukunft zu sichern. Wir können einfach direkt von "der perfekten Therapie" profitieren und die enge Verbindung von Klientenzentrierter Therapie und Gestalttherapie propagieren und praktizieren, (mehr zu dieser Verbindung an anderer Stelle).                                          
Als Joshka Fischer deutscher Außenminister war, wärmten die Zeitungen immer wieder seine Frankfurter Vergangenheit auf, stellten ihn als Steine werfenden Anführer der Studentenrevolte dar, um so seine Verdienste als Minister zu schmälern. Dasselbe tun die Kritiker heute, wenn sie Fritz Perls der Fühllosigkeit beschuldigen, anstatt den Weisen zu sehen, wie er in Cowichan gearbeitet hat. Den Ausgereiften, der angekommen war, wo man alles loslässt, den Stolz, die Angeberei, den Geniekult.                                                                                                                                                                    
Welch ein Geschenk: Wir haben hier und jetzt die ausgewachsene Gans. Wer denkt da noch an die harte Schale des Eies, an die kläglichen Flugversuche des Küken. "The goose is out", sagte der Zen-Meister. Die Gans ist raus!

Nachbetrachtung:
Die Autoren und Autorinnen Barry Stevens, Ruth Cohn, Claudio Naranjo und Arnold Beisser waren ausnahmslos Schüler und Mitarbeiter von Fritz Perls. Sie haben mit ihm gearbeitet und ihn persönlich gut gekannt. Die Autoren Sreckovic, Staemmler, Bock und Gordon Wheeler sind ihm nie begegnet.

- Mirko Sreckovic, Ausbildung bei Lore Perls und später Zusammenarbeit mit ihr.
- Frank Staemmler, Jg. 1951, ist 19 Jahre alt als F.P. stirbt. Seit 1976 im Zentrum für Gestalttherapie, Würzburg
- Werner Bock, Jg. 1948, schreibt auf der Internetseite des Instituts für Gestalt und Erfahrung: "Meine ersten Berührungen mit der Gestalttherapie fanden im Jahr 1970 statt."    
- Gordon Wheeler, schloß 1967 die Schule ab, ging danach zunächst nach Deutschland, arbeitete dann pädagogisch mit Kindern und wurde erst in den 70ger Jahren am Gestaltinstitut in Cleveland ausgebildet.

- Barry Stevens, 1902-1985, war gegen Ende der Esalen-Zeit und in Cowichan mit F. P.
- Ruth Cohn, 1912-2010, war 1965 und 66 bei F. P. in der Lehre, hat ihn später vertreten. (Perls wurde      als  Meister gesehen, und zu einem Meister geht man in die Lehre.)
- Claudio Naranjo, geb.1932, in den 60ger Jahren war er Lehrling bei F. P. und Mitglied der  Gestalt-          community in Esalen, leitete später dort Gestaltgruppen                                                            
- Arnold Beisser, 1925 - 1991, gehört zu Fritzens frühen Schülern und war langjähriger Freund.


https://institut-transpersonale-gestalttherapie.de/Buch.html

Kommentare

  1. Für mich sehr spannend zu lesen! Nur traurig bis ärgerlich, dass bei aller nötigen Kritik manche Nachfolger die Leistung ihres Vorreiters nicht anerkennen können oder wollen bzw. sie doch sehr schmälern. Für mich ist diese Leistung komplett losgelöst davon,
    - dass Fritz' Werk nicht von Anfang vollkommen ausgereift war (Halloo?Is doch klar)
    - wie viel oder wie viel gute Theorie er hinterlassen hat,
    - und dass er mit Sicherheit ein streitbarer Charakter war.

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