Fritz und Carl –
eine Gegenüberstellung von Rajan Roth
Zur Einstimmung zunächst
einiges aus dem Leben von Fritz Perls, denn wer seine Biografie studiert, wird
vieles über die Gestalt-Idee und die Gestalttherapie erfahren. Perls’ Lebensweg
und sein Lebenswerk sind nicht voneinander zu trennen. Mir präsentiert sich die
Gestalttherapie immer wie die geronnene Lebenserfahrung ihres Begründers.
Das gleiche gilt auch
für Carl Rogers. Wer seine Kindheit, Jugend und Studienzeit anschaut, wird auf
alle wesentlichen Themen und Grundeinstellungen stoßen, die später in der
klientenzentrierten Therapie ihre Ausformung und Ausformulierung fanden.
Fritz Perls und Carl
Rogers waren Zeitgenossen. Perls lebte von 1893 bis 1970, Rogers von 1902 bis
1987. Rogers ist der Jüngere, dennoch machten sie etwa gleichzeitig, um 1940, mit
neuen, bahnbrechenden Therapieformen von sich reden. Jahre später, 1961, wurden
sie beide Mitglieder der Amerikanischen Gesellschaft für humanistische
Psychologie. (Association for Humanistic Psychology). Diese Gesellschaft war
ein Forum für “viele Außenseiter und Erneuerer, Rebellen und Unzufriedene“.
(Groddeck, S.141) Sehr bald wurde die Bewegung „der dritte Weg“ genannt. Die
Psychoanalyse hatte als der erste Weg gegolten, die Verhaltenstherapie als der
zweite, die neuen Methoden, zusammengefasst in der Humanistischen
Psychotherapie, wurden diesen Vorgängern als der dritte Weg entgegengestellt.
Mit einem ganzheitlichen, organismischen Konzept setzte sich der dritte Weg von
den ersten beiden ab.
Rogers und Perls waren sich in den Grundüberzeugungen des dritten Weges einig: Der Mensch ist gut. Er
ist bestrebt, sein Potential zu leben und zu entfalten. Selbstbestimmung ist
keine Ideologie oder Idee, die wie andere Ideen kommt und geht, sie ist vielmehr eine, vom Menschsein untrennbare innere
Notwendigkeit. Alle psychischen Störungen lassen sich verstehen als Deformation
des Strebens nach Entfaltung der Persönlichkeit, nach Sinnfindung und
Sinngebung des eigenen Handelns, Denkens und Seins.
So viel die beiden
Begründer der Gestalt- und der Gesprächstherapie gemeinsam haben, es gibt auch
eine Reihe bemerkenswerter Unterschiede. In ihren Grundansichten sind sie sich
sehr nahe, in der Wahl der therapeutischen Mittel hat Perls jedoch ganz andere
Wege beschritten als Rogers. Hier die beiden Lebenswege und die daraus
resultierenden Unterschiede:
Herkunft : Carl
Rogers war Amerikaner. Er stammte aus einer wohlhabenden, gebildeten
Mittelschichtfamilie, die „den traditionellen Wertvorstellungen eines
konservativen Protestantismus aus der frühen Zeit der amerikanischen
Siedlerbewegung“ anhing. (Groddek S.21) Carls Eltern waren
überzeugt, dass allein ihre Form des christlichen Lebens richtig sei. Auf die
Einhaltung der hauseigenen Gebote wurde strengstens geachtet. >Du kommst
ohne Umwege nach der Schule sofort nach Hause. Es gibt keine Kontakte zu
anderen Schülern oder gar Schülerinnen, das lenkt dich nur ab<. Alles
Sinnliche war sündig. Der junge Carl zog sich in seine eigene Welt aus Büchern
und naturwissenschaftlichen Studien zurück, aber auch das wurde bemängelt und es
begann schon in der Schulzeit, was dann während des Studiums unübersehbar wurde: Carl war das schwarze Schaf der Familie Rogers.
Er fühlte sich sehr einsam und die Strenge der Eltern
bedeutete für ihn, dass sie ihn
nicht liebten. Er war ständig angespannt und „hatte schon mit 15 ein
ausgewachsenes Magengeschwür.“ (Groddeck S. 31) Die Eltern fragten nie, was Carl
möchte. Sie wussten was richtig und gut war für ihre Kinder. Als Carl während
seiner Studienzeit an einer halbjährigen Chinareise teilnehmen konnte, kam er
mit religionsübergreifender Toleranz, mit liberalen Gedanken und mit einem ihm
bisher unbekannten Gemeinschaftsgefühl in Berührung. Als er darüber den Eltern
in Briefen berichtete, warteten nach seiner Rückkehr nur Tadel und Strafe auf
ihn.
Zweiundzwanzigjährig
heiratete Carl seine Jugendfreundin Helen. Beide Elternhäuser waren entschieden gegen
die frühe Heirat, so dass die Feier im Haus von Helens Schwester stattfand,
nicht bei den Eltern. Das Paar zog gleich nach der Hochzeit nach New York.
Die Distanz von den Eltern und von deren Auffassungen erlebte Rogers als Wohltat
und Befreiung.
Ein Leben lang, so
stellt sich mir die Biografie von Rogers dar, war er bestrebt, sich immer
weiter aus der emotionalen Kühle und der
geistigen Enge seiner Familie zu befreien und, wie er selbst sagte, mit
missionarischem Eifer von der heilenden Wirkung des Zuhörens und des
Gehörtwerdens zu sprechen und zu schreiben – das, was ihm im Elternhaus so sehr
gefehlt hat.
Herkunft: Fritz
Perls war Deutscher. Seine Eltern waren aus den deutschen Ostprovinzen nach
Berlin gekommen, vermutlich erst wenige Jahre vor der Geburt des dritten Kindes
Friedrich Salomon, genannt Fritz. Beide Eltern gehörten der jüdischen Gemeinde
an. Während die Mutter die Vorschriften des orthodoxen Judentums einhielt,
sich koscher ernährte und zur Synagoge ging, war der Vater Mitglied in einer
Freimaurerloge, behandelte seine Frau rüde und hatte viele Affären. Perls
schreibt später in einer Kurzbiografie: „Mutter liebevoll, ehrgeizig, liebt die
Kunst, hasst den Vater. Vater hasst Mutter, liebt Frauen; spielt den
Grossmeister der Freimaurer, schwer und fröhlich...“
In den ersten Jahren
ging es wirtschaftlich bescheiden her, aber schon 1896 konnte die Familie in
eine grössere Wohnung in besserer Lage umziehen. Fritz’ Vater hatte eine
Vertretung für Weine der Barone Rothschild übernommen und damit war es den
Perls’ möglich, den Standard einer Mittelschichtfamilie im deutschen
Kaiserreich zu leben – in wirtschaftlicher wie in Hinsicht auf die
Erziehungsmethoden.
Fritz fühlte sich
geliebt und bewundert bis er zehn Jahre alt war. Mit den Schulschwierigkeiten,
die mit dem Wechsel auf das Mommsen-Gymnasium einhergingen, wandelte sich die
liebevolle Zuwendung in Forderungen und Druck. Fritz war Mutters große
Hoffnung gewesen, nun sah sie sich betrogen und glaubte, sie könne durch
Schläge wieder herbeiholen, was nicht mehr war. Aber Fritz war nicht zu
bändigen. Er zerbrach Mutters Teppichklopfer oder schnitt der Peitsche die
Riemen ab.
Auch der Vater hatte
ein sehr raues Verhältnis zum Sohn, machte ihn klein, durch abwertende
Bemerkungen. „Perls teilte hier Erfahrungen mit vielen Leidensgenossen seiner
Generation. Der selbstbehauptende Kampf gegen den übermächtigen, fernen und den
Sohn nicht oder kaum anerkennenden Vater, verknüpfte sich mit dem Kampf gegen
die kalten materialistischen Werte des Wilhelmismus, die auch der eigene Vater
repräsentierte. Der Kampf gegen das verlogene Bürgertum mit seiner
Doppelmoral...entwickelte sich zu einem grossen... Thema.“ (Bocian S.56)
Der enorme Druck, den
die Eltern auf ihren Sohn weitergaben, resultierte aus der veränderten
rechtlichen und politischen Situation der Juden im deutschen Kaiserreich. Nach
der Emanzipierung standen ihnen nun fast alle Berufe offen. Um in die
bürgerliche Gesellschaft aufgenommen zu werden, musste man in Schule und
Hochschule überdurchschnittliche Leistungen bringen, nur dann war sozialer
Aufstieg möglich. Das war die Überzeugung der Elterngeneration. Im Gymnasium
machte Fritz Perls aber die Erfahrung, „dass er als Bürger zweiter Klasse in
die Welt getreten ist und dass keine Tüchtigkeit und kein Verdienst ihn aus
dieser Lage befreien kann.“ (Bocian S.66) So lebte Perls immer in der Spannung zwischen seiner rebellischen Grundhaltung einerseits und der Sehnsucht nach
Zugehörigkeit andererseits.
Studium: Carl Rogers
schrieb sich 1920 an der Universität von Wisconsin für Agrarwissenschaften
ein. Noch im ersten Studienjahr wechselte er die Fachrichtung und belegte Kurse
in Geschichte um sich für ein theologisches Studium vorzubereiten. 1924
graduierte er in Religionsgeschichte und nahm kurz darauf das Studium der Theologie am Union Theological Seminary
in New York auf. „Es war das liberalste im ganzen Land“, wie er selbst schrieb.
(Groddeck S.41) Mit dem theologischen Seminar und dem Teachers Training College
der Columbia Universität gab es ein Dozentenaustauschprogramm, „so dass Rogers
auch Veranstaltungen in Psychologie, Pädagogik und Psychiatrie hören konnte.“
(Groddeck S.42)
Dort lernte er bei
W. H. Kilpatrick, dass „Respekt für die Person die Wurzeln der Demokratie
darstellt“ und dass „wir lernen, indem wir uns verhalten“. Beides
richtungsweisende Gedanken in jener Zeit und beides später wichtige Elemente
der klientenzentrierten Therapie.
Als Rogers am Union
Theological Seminary begann, wollte er noch Pfarrer werden. 1925 übernahm er,
als ersten Schritt, eine Vertretung auf
einer Pastorenstelle. Dort fand er heraus, daß er vor allem in der seelsorgerischen Arbeit noch viel lernen musste. Sein
Interesse an Psychologie wuchs und in der Folge wechselte er zum Teachers
College mit Hauptfach Psychologie. 1928 trat er eine Stelle in der Abteilung
Kinderforschung an, wo es um die Behandlung von Problemkindern ging. 1931
erwarb er den Doktorgrad in Psychologie.
Erst in den Jahren nach
1940 begann er sich eingehend mit Psychotherapie zu befassen. In einer Rede, im Dezember 1940, er war gerade frisch gebackener Professor an der Ohio State
University, sprach er über neuere Konzepte in der Psychotherapie – und genau
diese Rede betrachtete Carl Rogers als die Geburtsstunde der klientenzentrierten
Therapie.
Studium: Fritz Perls wechselte vom Mommsen Gymnasium, wo es Schwieirgkeiten gab, vor allem wegen der antisemitischen Haltung des Lehrkörpers, an das Askanische Gymnasium. Dort unterrichteten
reformpädagogisch orientierte Lehrer. Fritz fand zu guten
Schulleistungen zurück und bestand 1913 sein Abitur mit Auszeichnung.
Sich dem Wunsch seiner
Familie widersetzend, studierte Perls nicht Jura sondern Medizin. Das tat er
nicht aus Begeisterung, sondern er betrachtete dieses Studium als Türöffner zu
„Philosophie und Physiologie“. (Perls, Lebenslauf) Fritz Perls hatte die
Traumdeutung von Sigmund Freud gelesen, war davon sehr beeindruckt und fühlte
sich in diese Richtung gezogen. Freud war ebenfalls Mediziner.
F. P. begann sein
Medizinstudium in dem Jahr, in dem der erste Weltkrieg begann, 1914.
Er wusste, dass alle
Männer seines Alters bald zum Kriegsdienst eingezogen werden würden, so meldete
er sich, um nicht gleich an die Front zu kommen, als freiwilliger Soldat zum
Roten Kreuz. Studium und Einsätze ließen sich anfangs wohl noch einigermaßen
vereinbaren. 1915 musste er dennoch zur Grundausbildung an der Waffe einrücken
und wurde, inzwischen 22jährig, einem Pionier-Bataillon als Sanitäter
zugeteilt. Dazu später noch einige Sätze.
1919, ein Jahr nach
Kriegsende, erlangte Fritz Perls die Approbation zum Arzt. 1921 schloss er die
medizinische Ausbildung mit dem Dr.med. ab und begann als Nervenarzt zu arbeiten. Die
Ausbildung zum Psychoanalytiker begann 1925
mit einer Lehranalyse bei Karen Horney und sie endete im Jahr 1933 bei Wilhelm Reich. (Bocian S.185)
1926 und 1927 arbeitete
Fritz Perls als Assistenzarzt bei Kurt Goldstein in Frankfurt. Goldstein
leitete das neurologische Institut und arbeitete mit Ademar Gelb zusammen, der
am psychologischen Institut der Universität Frankfurt die neuen
gestaltpsychologischen Ansätze vertrat. Hier lernte Perls das
ganzheitlich-organismische Denken kennen. In einer Lehrveranstaltung von
Gelb/Goldstein traf Fritz Perls auch seine spätere Frau Lore (Bocian S.192).
1927-28 folgte ein Jahr Assistenzzeit an der Wiener Nervenklinik. Perls war nach Wien gekommen, um nach dem ersten Abschluss seiner Lehranalyse die anderen Ausbildungsteile zu absolvieren – Theorieseminare, Kontrollanalyse und technische Seminare. Dazu schrieb er sich beim Ausbildungsinstitut der Wiener Psychoanalytischen Vereinigung ein. Das beanspruchte neben seiner Arzttätigkeit sehr viel Zeit, „er hatte das komplette Programm des Wiener Lehrinstituts belegt.“ (Bocian S.203)
1927-28 folgte ein Jahr Assistenzzeit an der Wiener Nervenklinik. Perls war nach Wien gekommen, um nach dem ersten Abschluss seiner Lehranalyse die anderen Ausbildungsteile zu absolvieren – Theorieseminare, Kontrollanalyse und technische Seminare. Dazu schrieb er sich beim Ausbildungsinstitut der Wiener Psychoanalytischen Vereinigung ein. Das beanspruchte neben seiner Arzttätigkeit sehr viel Zeit, „er hatte das komplette Programm des Wiener Lehrinstituts belegt.“ (Bocian S.203)
Zurück in Berlin
arbeitete er wieder als Arzt, jetzt in eigener Praxis, immer in der Hoffnung,
als Psychoanalytiker Fuß fassen zu können. Die Deutsche Psychoanalytische
Gesellschaft riet ihm aber noch weiter zur Lehr- und Kontrollanalyse zu gehen. Fünf Jahr später war er immer noch nicht fertig. Milan Sreckovic schreibt dazu:
warum Fritz Perls noch nicht einmal fünf Jahre später, als er im Dez 1933 nach
Südafrika auswanderte, „fertig und ein akkreditierter Psychoanalytiker war,
wird wohl ein Rätsel bleiben.“ (Handbuch S.49)
Mehr zur Prägung von
Fritz Perls erfahren wir aus dem brillanten Buch von Bernd Bocian, „Fritz Perls
in Berlin 1893-1933“. Er greift vier bedeutende Einflüsse aus seiner Schul- und
Studienzeit heraus, Elemente, die sein Welt- und Menschenbild betreffen und die
sich später alle in der Gestalttherapie wiederfinden:
1. Das humanistische Bildungsideal
2.
Max Reinhardt und das expressionistische Theater
3.
Desensibilisierung und die Wiedererlangung der
Sensibilität
4. Das Hier- und Jetzt-Prinzip
° Zum humanistischen
Bildungsideal nur so viel: es steht jener Betrachtungsweise aus dem Altertum,
wie sie von Thomas Hobbes noch einmal zitiert wurde „der Mensch ist des
Menschen Wolf“, diametral entgegen. Die Humanisten sind davon überzeugt, dass
der Mensch im Grunde gut ist. Vergeht er sich gegen sich selbst oder andere, so
wird das auf psychische Deformation zurückgeführt - verursacht durch äußere
Einflüsse - nicht auf das Wesen. Nicht der Kern ist verdorben, sondern die Schale.
In unserem innersten Kern ist ein enormer Vorrat an Möglichkeiten angelegt, den es zu entfalten
gilt. Mensch werden, heißt ganz werden, heißt Reintegration abgespaltener
Persönlichkeitsanteile, heißt Raum schaffen für Wachstum. So werden es später
die Mitglieder der Vereinigung für humanistische Psychotherapie formulieren.
° Perls liebte das
Theater. Nicht die Illusion, die auf der Bühne entstehen kann, faszinierte ihn,
sondern gerade das Gegenteil: das Abbild der Wirklichkeit. Die Wilhelminische
Gesellschaft, in der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg mit Nationalismus und
Kolonialismus beschäftigt, ist die Gesellschaft der Masken. Das wahre Gesicht
traut sich nur der Schauspieler zu zeigen und er zeigt es in diesen ersten
beiden Jahrzehnten des neuen Jahrhunderts wie nie zuvor. Das neue Schauspiel
sucht den Ausdruck, die Expression. Vorreiter des Expressionistischen
Theaters ist Max Reinhardt. In der Oberstufe des Gymnasiums spielte Perls schon als
Statist bei Max Reinhardt, als Student bekam er gelegentlich kleine Rollen.
Seine Medizinerkollegen sollen später von ihm gesagt haben, er sei mehr auf den
Dachböden der Berliner Bohème zu finden, bei den Künstlern und Lebenskünstlern
als in der Klinik.
Max Reinhardt brachte
völlig neue, revolutionäre Inszenierungen ins Berliner Theater. Seine Regie war
gnadenlos, seine Stücke polarisierten, er löste hier Empörung aus, erntete dort
höchstes Lob. Das alte Theater hatte Bühnencharaktere festgelegt, in
sogenannten Rollenfächern. Die hießen zum Beispiel jugendlicher Held oder jugendlicher
Liebhaber, Intrigant oder Naturbursche, Königinnenmutter oder Heldenvater etc.. jede Figur konnte sich nur in einem festgelegten darstellerischen Rahmen von Mimik, Gestik und Tonfall bewegen. Wer sich nicht in diesem Rahemn zwängen wollte,
hatte auf der klassischen Bühne nichts verloren. Reinhardt dagegen forderte, dass
die Schauspieler die Figuren auf der Bühne beseelen. Wer einen König,
Liebhaber, Krieger darstellt, soll Zugang zu seinem inneren König, Liebhaber,
Krieger nehmen. Nur ein Schauspieler, der die Rolle mit seiner eigenen
Erfahrung, mit seinem persönlichen Erleben füllen konnte, würde die Zuschauer
berühren. Das expressionistische Theater ließ die Tiefen menschlichen
Empfindens lebendig werden, Schmerz, Liebe, Wut. Das Zögern, die Zweifel, die
Pein sollten jeden Abend auf der Bühne neu entstehen und das konnten sie nur,
wenn der Schauspieler in der Königsrolle den eigenen inneren König aufscheinen
ließ. Wer den König in sich nicht finden konnte, sollte er eine andere
Rolle spielen, vielleicht den Bettler, weil er gerade jetzt mit seiner
eigenen Bedürftigkeit und seiner inneren Armut beschäftigt ist.
Authentizität (wie sie bei Carl Rogers auch wieder auftaucht) war bei Reinhardt ein großer Anspruch.
Die kaiserliche Gesellschaft hatte keinen Platz dafür. Die Geschehnisse des
Krieges waren aber gerade dabei die Werte der bürgerlichen Gesellschaft
umzukrempeln und so gab es zunehmend mehr kritisch denkende Zeitgenossen, die
den Expressionismus als wahrer, echter, ehrlicher stürmisch begrüßten. Zu
ihnen gehörte auch Fritz Perls.
Wir werden im Folgenden
sehen, wie sich der Einfluss des neuen Theaters in der Gestalttherapie
wiederfindet.
° Wie oben schon erwähnt, hat Perls den ersten
Weltkrieg mitgemacht. Bocian schreibt "Wer einen so langen Zeitraum wie Perls
an der Front verbracht hat, wird chronisch traumatisiert nach Hause gekommen
sein.“ (S.113) Eine der Erscheinungsformen des Kriegstraumas ist die
Desensitivierung. Die Überbelastung durch fortgesetzte grausam visuelle und
akustische Eindrücke hat die Soldaten dazu gebracht, ihre Gefühle abzuschalten.
Auch Perls beobachtete seelische Verhärtung und Panzerung an sich selbst. Er „hat
im Laufe seiner langjährigen psychoanalytischen Ausbildung versucht, Erlösung
für diese Probleme zu finden“. (S.114) Seine ersten Analytiker konnten ihn
nicht erreichen. Erst in der Lehranalyse bei Wilhelm Reich fand Perls
jemanden, der zu ihm durchdrang: Wieder fühlen heißt, wieder lebendig sein.
Perls sagte später am Ende einer Sitzung gelegentlich: Fühlst du dich
jetzt ein bisschen lebendiger? Er wusste, wovon er sprach.
° Fritz Perls war also
ein aufgewühlter und aufwühlender Mensch. Er hatte, wie seine Frau sagte, aus
dem ersten Weltkrieg einen schneidenden Zynismus mit nach Hause gebracht und
kämpfte über die Jahre immer wieder mit Depressionen. Andererseits hatte er
durchaus Augen für die Schönheit der Welt. Er war lebenshungrig, fühlte sich
zur Kreativität hingezogen, wo sich enges, bürgerliches Denken transformieren
oder einfach ablegen ließ. Er selbst nannte sich, wegen seiner Zuneigung zum
Dadaismus, den "ersten Gestaltdada". Dieser Widerspruch zwischen Zynismus und
Hingabe an eine bezaubernde Welt konnte nur durch eine Haltung überbrückt
werden, in der beides Platz hatte: durch das Hier- und Jetzt-Prinzip. Was
vergangen ist, ist vergangen, was kommen wird, wissen wir nicht. Das einzig Wirkliche ist der gegenwärtige Augenblick.
1916 war Perls in den
ersten Frontgraben verlegt worden. Angriff mit Giftgas-Minen. Die britischen
Einheiten antworteten mit Trommelfeuer. „Zwei Stunden der Hölle...“ wie er
selbst schrieb. „Auf dem Rückmarsch ein erstaunlich schöner Sonnenaufgang. Ich
fühlte die Gegenwart Gottes. Oder war es Dankbarkeit oder der Kontrast zwischen
dem Geschützfeuer und der heiteren Stille? Wer weiß.“ (Bocian, S.104) Du
kannst den Sonnenaufgang mitten im Krieg nicht
wie eine Offenbarung erleben, wenn du noch am Vorhergehenden klebst. Nur
wenn du ganz im Augenblick bist, kannst du ihn geniessen – egal was er bringt.
Rogers und Perls, zwei Giganten. Rogers, ist der Mann, der einerseits größten
Respekt vor der Eigenart und Eigenständigkeit des Individuums hatte und der andererseits eine wissenschaftliche Herangehensweise liebte, in der Präszision und Nachvollziehbarkeit des eigenen Handelns wichtig ist. Er entwickelte aus der Achtung vor den Menschen und aus Verpflichtung gegenüber der
Wissenschaft den kontrollierten Dialog. Faszinierend, seine
sparsame Art, sein Verzicht auf Selbstdarstellung. Wir sehen, wie der Therapeut
sich ganz weit zurücknimmt, wie ein Vakuum entsteht. Der Klient ist eingeladen, dieses Vakuum selbst zu füllen. Wenn der Klient seine Erwartungen auf den Therapeuten
richtet und der ihm in jenen langen Gesprächspausen, die durchaus entstehen
können, nur Stille und intensionslosen Raum anbietet, dann wird er
unweigerlich irgendwann aus seinen eigenen Tiefen Antworten und Lösungen
hervorbringen.
Klientenzentrierte Therapie hat sehr viel mit Disziplin zu tun. Nicht mit Gehorsam, nicht mit Unterwerfung unter fremde Befehle, sondern mit Bescheidung. Eine Disziplin, die von innen kommt. Eine Disziplin, die das Therapeuten-Ego meistert, das unablässig eingreifen, die Dinge richten, verändern und besser machen will. Die Zurückhaltung, das Sparsame, die Therapie der kleinen Schritte, wie Rogers sie selbst nannte, das ist klientenzentrierte Therapie. Es ist das Nicht-Tun, das doch keine Passivität ist. Ohne Präsenz und ohne Empathie ist schweigsames Dasitzen hohl und impotent. Eine Zurückhaltung, die nicht macht, sondern geschehen lässt. Ein tuendes Nicht-Tun. „Wei wu wei“, wie es im Tao heißt. Rogers soll Laotse zitiert haben, „je weniger ich den Menschen beeinflusse, um so mehr kann er er selbst werden.“
Klientenzentrierte Therapie hat sehr viel mit Disziplin zu tun. Nicht mit Gehorsam, nicht mit Unterwerfung unter fremde Befehle, sondern mit Bescheidung. Eine Disziplin, die von innen kommt. Eine Disziplin, die das Therapeuten-Ego meistert, das unablässig eingreifen, die Dinge richten, verändern und besser machen will. Die Zurückhaltung, das Sparsame, die Therapie der kleinen Schritte, wie Rogers sie selbst nannte, das ist klientenzentrierte Therapie. Es ist das Nicht-Tun, das doch keine Passivität ist. Ohne Präsenz und ohne Empathie ist schweigsames Dasitzen hohl und impotent. Eine Zurückhaltung, die nicht macht, sondern geschehen lässt. Ein tuendes Nicht-Tun. „Wei wu wei“, wie es im Tao heißt. Rogers soll Laotse zitiert haben, „je weniger ich den Menschen beeinflusse, um so mehr kann er er selbst werden.“
Ganz anders präsentiert
sich Fritz Perls. Das Leben geht nicht mit Samthandschuhen mit dir um - nicht
im Giftgas Krieg, nicht im feindlichen Trommelfeuer und nicht, wenn du das Pech
hast, der Jude zu sein, in einer Gesellschaft, die beschlossen hat, sich selbst
zu überhöhen, indem sie dich erniedrigt. Warum sollte der Therapeut also
zimperlich sein, eine heile Welt erschaffen, die es da draußen doch nicht
gibt? Das Leben ist nicht nur Stille und Geschehenlassen, es ist auch laut und
wild und aggressiv. Aggression im Sinne von aktiv auf das Leben zugehen, das
ist ein Grundzug, ohne den das Leben längst aufgehört hätte zu existieren.
Lebewesen haben den Impuls, sich durchzusetzen, sich zu behaupten, nicht zu
verhungern, nicht zu sterben.
Lebende Organismen
erscheinen bei Fritz Perls als Energiekugeln, die dafür geschaffen sind, zu sprühen, zu
funkeln, sich zu bewegen und die Existenz zu bereichern - durch ihr pures
Dasein.
Fritz ist nicht
zimperlich. Er brüskiert seine Klienten, er fordert sie auf, Dinge zu tun und
Schritte zu gehen, die sie bisher vermieden haben. Der Perls-Schüler Toni Horn,
den ich selbst in Gestaltgruppen erlebt habe, forderte einen Teilnehmer auf:
„Du hast von einem räudigen Hund geträumt, der jedem ans Bein pisst? Ok., steh
auf, geh zu jedem Gruppenteilnehmer, piss ihm verbal ans Bein. Du weißt, wie man
jemanden verbal anpisst? Also, sei der räudige Hund und dann sag uns, was du dabei erlebst.“
Perls` Sitzungen
sprühten von Einfallsreichtum, von unvorhersehbaren Interventionen. Es fragt
sich immer wieder, wo nimmt er das her? Das ist der Schauspieler, der
Theatermensch. Das ist der Dadaist, der erlebt hat, dass Leben nicht logisch
ist, dass die Psyche nicht wie Arithmetik funktioniert, vielmehr ist es das
Unberechenbare selbst, das Unerklärliche, das Sprunghafte, das Wechselhafte.
Leben ist Veränderung.
Wenn Rogers die Stille
des Universums repräsentiert und seine Sitzungen den Schritt Gottes hörbar
machen, dann lässt Fritz Perls in seiner Arbeit die Lust der Schöpfung am
Schöpfen sichtbar werden. Der Schöpfungsakt war nicht nach 6 Tagen
abgeschlossen, er hat nie aufgehört. Das Universum ist Kreativität, es ist
dynamisch, es ist lebendig. Das ist der Kern
der Gestaltarbeit von Fritz
Perls. Leben ist wertvoll, bewusstes Leben ist der höchste Wert, den es gibt.
Und das Leben passiert immer im Hier und Jetzt und nirgendwo anders.
Noch einmal kurz:
Fritz Perls und Carl
Rogers stehen beide für die Entfaltung der Persönlichkeit
Carl mit Disziplin,
clientcentered Therapy, die Stunde des Klienten, Haltung des Therapeuten,
Achtung und
Wertschätzung des anderen, mit Einfühlung und Selbstexploration.
Fritz mit
Wiederentdeckung der Kreativität, Wiederbelebung des Selbst, Wiedergewinnung
der Lebendigkeit.
Zitierte Literatur
Handbuch der Gestalttherapie. Hrsg. Reinhard Fuhr u.a.
Göttingen, 2001
Groddeck, Norbert: C.Rogers, Wegbereiter der modernen
Psychotherapie. Darmstadt, 2002
Bocian, Bernd: Fritz Perls in Berlin 1893-1933. Wuppertal,
2007
http://www.gestalttherapie-esslingen.de/
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